24. Jahrgang | Nummer 6 | 15. März 2021

Hugo Grotius und die Landung auf dem Mars

von Jürgen Leibiger

Vor so ziemlich genau 400 Jahren, am 22. März 1621, zwängte sich der niederländische Rechtsgelehrte Hugo Grotius (1583–1645) auf Burg Loevestein, wo er wegen seiner Unterstützung der bürgerlichen Provinzialgewalten gegen den Statthalter der Niederlande eine lebenslange Haft verbüßen sollte, in eine Büchertruhe. Seine Frau Marie, die ihn hatte begleiten dürfen, verschloss die Truhe und ließ sie abtransportieren. Da es ihm erlaubt war, Bücher geliefert zu bekommen und wieder zurückzusenden, schöpften die Wachen keinen Verdacht; die Flucht glückte. Wenig später meldete er sich aus Paris, wo er 1625 „Das Recht des Kriegs und des Friedens“ in lateinischer Sprache veröffentlichte. Das Werk, das er in der Gefangenschaft zu schreiben begonnen hatte, wurde seine bedeutendste Schrift.

Auf die Berichte über die Chuzpe des Ehepaares stößt, wer sich angesichts des jüngsten Runs zum Mars – NASA, ESA, China, Vereinigte Arabische Emirate, Indien, Japan, Elon Musk – für die Frage der Eigentumsverhältnisse im Weltraum interessiert. Grotius, der mit dem erwähnten Werk zu einem der Begründer des Völkerrechts wurde, hatte die auf einem päpstlichen Spruch beruhenden Ansprüche Spaniens und Portugals auf die Herrschaft über die Meere zurückgewiesen. Im Interesse der Vereinigten Ostindien-Kompanie, die ein Gutachten bei ihm in Auftrag gegeben hatte, begründete er in seiner Schrift „Das freie Meer“ von 1609 warum es das behauptete Eigentum an den Weltmeeren nicht gebe. Seine Argumentation kam den Bestrebungen der neuen, aufstrebenden Handelsnationen entgegen und bereitete damit – obwohl sie keine vollständige Geltung erlangte – nicht nur der Entwicklung des modernen Seerechts, sondern auch den späteren Theorien über global commons, globalen Gemeingütern, den Weg.

Der Gedanke von der Freiheit der Meere liegt auch dem heutigen Weltraumrecht zugrunde. Im sogenannten Weltraumvertrag von 1967 wird durch die Unterzeichnerstaaten international gültiges Recht geschaffen. Artikel II lautet: „Der Weltraum einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper unterliegt keiner nationalen Aneignung durch Beanspruchung der Hoheitsgewalt, durch Benutzung oder Okkupation oder durch andere Mittel.“ Und Artikel VI ergänzt: „Die Vertragsstaaten sind völkerrechtlich verantwortlich für nationale Tätigkeiten im Weltraum einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper, gleichviel ob staatliche Stellen oder nichtstaatliche Rechtsträger dort tätig werden, und sorgen dafür, dass nationale Tätigkeiten nach Maßgabe dieses Vertrags durchgeführt werden.“ Obwohl von einem „globalen Gemeineigentum“ hier nicht die Rede ist, kann also nicht mehr von Niemandsland gesprochen werden, denn die Unterzeichnerstaaten unterwerfen sich diesem internationalen Recht. Eine weitergehende definitive Festlegung wurde von interessierter Seite verhindert. Weil im Mondvertrag von 1979 vom Mond als einem „gemeinsamen Erbe der Menschheit“ die Rede ist, war das ein Grund dafür, dass ihm nur wenige Staaten beigetreten sind. Vor allem den raumfahrenden Nationen war eine solche Festlegung im Hinblick auf eine zukünftige wirtschaftliche Nutzung zu restriktiv. Wegen seiner geringen Akzeptanz erlangte der Mondvertrag keine völkerrechtliche Geltung.

Die USA und Luxemburg haben als bisher einzige Länder 2015 und 2017 nationale Weltraumgesetze verabschiedet, die privaten Besitz und private Ausbeutung von Weltraumressourcen auf der Grundlage einer nationalen Genehmigung erlauben. Man reibt sich verdutzt die Augen: Luxemburg? Aber klar, das Großherzogtum hofft auf die Gründung und Niederlassung von interessierten Firmen und inzwischen gehören bereits 50 Unternehmen zum luxemburgischen Raumfahrtsektor. Der US-Milliardär Elon Musk kündigte für die von ihm geplante ständige Mars-Station an, er würde sich zwar kalifornischem Recht unterwerfen, aber dann sollten dort eigene Gesetze geschaffen werden, weil der Mars frei sei und es somit weder nationales noch internationales Eigentum gebe. Ob all das dem Völkerrecht entspricht und durchsetzbar ist, bleibt umstritten, aber ein Streit ist den interessierten Staaten und Firmen auf jeden Fall lieber als eine juristisch bindende Festlegung, wonach es sich beim Weltraum und den Himmelskörpern um global commons handele, die dann noch womöglich von einer Organisation der UNO verwaltet würden.

Obwohl internationale und nationale Rechtsetzung nicht grundlos erfolgen, scheinen die Auseinandersetzungen im Hinblick auf die Ressourcengewinnung doch noch sehr weit hergeholt. Ganz anders liegt der Fall beim erdnahen Raum, dessen wirtschaftliche Bedeutung dem Nutzen der internationalen Seefahrt zu Zeiten des Hugo Grotius schon heute in nichts nachsteht. Insbesondere die billionenschweren Wirtschaftsbereiche von Telekommunikation, Navigation oder Erdfernerkundung sind ohne Satelliten im Orbit nicht mehr denkbar. Und künftig werden die privaten Systeme, wenngleich noch oft in staatlichem Auftrag, die nationalen und internationalen Missionen wohl sogar überholen. Allein SpaceX, die Raumfahrtfirma von Elon Musk, will in den nächsten Jahren der globalen Satellitenflotte – heute um die 3400 Stück; die mehrere hunderttausend Objekte an Weltraummüll nicht mitgezählt – vierzigtausend Nanosatelliten hinzufügen. In diesem März sind weltweit acht Raketenstarts verschiedener Länder geplant, zwei davon gehen auf das Konto von Musks Starlink-Projekt. Seine Trägerraketen sollen dann je sechzig Satelliten im Orbit platzieren; über Tausend hat er seit 2019 schon hochgeschossen. Einige seiner Kollegen in den Top-Listen der globalen Milliardäre und diverse Startups wollen nachziehen. Der Weltraum wird dann für andere Nutzer allmählich zum knappen Gut.

Völlig unabhängig davon wie die Eigentumsfrage bezüglich des Weltraums juristisch zu beantworten ist, werden damit Tatsachen geschaffen. Privatfirmen übernehmen Verfügungs- und Aneignungsmacht über den Raum und werden gewaltige Profite daraus ziehen. Grotius‘ kühner Gedanke von der Freiheit der Meere eröffnete seinerzeit dem kapitalistischen Fortschritt den Weg. Aber so grandios der Anblick solch technischer Wunderwerke wie der eines Segelschiffes der Ostindien-Kompanie auf hoher, freier See oder einer Kette von Starlink-Satelliten am nächtlichen Himmel ist, schließt diese Art Freiheit zum Beispiel auch ein, dass die Meere heute überfischt, verschmutzt und voller militärischen Schrotts sind und Schiffskollisionen zum Alltag gehören. Im 17. Jahrhundert war das kaum absehbar, aber heute weiß man, welche Folgen die eigennützige Verwertung von „freien“ Räumen zeitigen, in denen das Gemeinwesen keine Verfügungsmacht ausübt: Während Profite privat eingesackt werden, muss es schädliche Folgen ertragen oder die Kosten für deren Eindämmung und Beseitigung übernehmen.

Hugo Grotius ist das nicht anzulasten. Zuletzt stand er im Dreißigjährigen Krieg als Diplomat in schwedischen Diensten. Aus Stockholm kommend erlitt er 1645 auf der Ostsee einen Schiffbruch und verstarb in Rostock.