Der ungewöhnliche Brief kam von einer Freundin ins Haus. Sie fragte an, was mir das Lesen von Büchern bedeute, was es auslöse, bewirke, welche Empfindungen daran geknüpft wären, welchen Einfluss ihm einzuräumen sei. Die Briefschreiberin gab gleichzeitig ein Beispiel, zum Nachahmen gedacht oder auch um andere Wege zu gehen. Ihr vorgetragener Jahresrückblick bestand nicht aus einer Aneinanderreihung gewesener Ereignisse, sondern sie maß die vergangenen Monate an den gelesenen Büchern, deren Auswahl und Nachklang. Ein ansprechender Gedanke, dem man als Lesemensch gern Folge leistet.
Ich befragte mich und fand, dass Lesen seiner Bedeutung nach eigentlich als fünftes Grundbedürfnis – neben Essen, Trinken, Schlafen, Fortpflanzen – gelten sollte. Von der Wirkung ist unter anderem zu erwarten: Zustimmung, Bestätigung eigener Ansichten, Widerstand und Kritik oder, im seltenen Falle, nach zehn Seiten Beiseitelegen des Lesestoffs. – Vielfältige Fragen tun sich auf, die Antworten verlangen. Man greift zum nächsten weiterführenden Buch. Eine Kettenreaktion. Nebenwirkung: Obwohl die Wohnung vom Staub befreit werden müsste, vergeht der Tag mit Lesen, Lesen, Lesen.
Empfindungen? Je nachdem: Beglückend, ermutigend, entdeckerfreudig, erheiternd; traurig stimmend, ernüchternd, mutlos. Um sich von Melancholie zu lösen, liest man einfach nach bei Christian Morgenstern oder Joachim Ringelnatz oder blättert in Karel Čapeks „Das Jahr des Gärtners“ (sofern man ein Gartenliebhaber ist). Lesen als Therapeutikum.
Weiterlesen? Eine Frage, die keiner Antwort bedarf. Doch sie gibt einen gedanklichen Seitensprung frei: Wiederlesen! Längst Bekanntes aus dem Bücherschrank nehmen und neu entdecken. – Das Reisen ist derzeit erschwert, also greife ich nach „Unterwegs-Büchern“. George Sand: „Ein Winter auf Mallorca“. Bilder erscheinen vor dem inneren Auge. Der hochgelegene Ort Valldemossa. Der Sommertag, an dem ich durch die Gänge des ehemaligen Kartäuserklosters ging, um Chopin und George Sand zu begegnen. Ein Blick hinunter ins Tal. Und der Duft nach Rosmarin und Myrte, den der Wind herauftrug. Chopins begeisterter Ausspruch fällt mir ein: „Alles ist nur ein Sandkorn im Vergleich zu diesem Himmel, der Poesie, die überall von hier ausgeht, und den lebendigen Farben dieser Landschaft. Es ist eine der schönsten dieser Welt.“
Das Land der Wünsche nach Sonne, milder Luft und außergewöhnlichen Farben, nach historischen Stätten und den Kulturschätzen der großen Städte – Italien. Auch diese Sehnsucht lässt sich vorübergehend nicht erfüllen. Herrn Geheimrat Goethes „Italienische Reise“ mag als Ausgleich dienen. „Den 2. März (1787) bestieg ich den Vesuv, obgleich bei trübem Wetter und umwölktem Gipfel. Fahrend gelangt ich nach Resina, sodann auf einem Maultiere den Berg zwischen Weingärten hinauf; nun zu Fuß über die Lava vom Jahre einundsiebenzig, die schon feines, aber festes Moos auf sich erzeugt hatte; dann an der Seite der Lava her …“
Ich ritt nicht auf einem Maulesel, sondern fuhr mit einem modernen Verkehrsmittel hinauf zum legendären Berg mit seinem verheerenden Ausbruch im Jahr 79 nach Christus. Nur das letzte Stück wanderte ich zu Fuß. Der Gipfel war frei, das Meer tiefblau und am Himmel kein Wölkchen. Aus dem gewaltigen Krater stiegen verschiedentlich schmale Dampfsäulen auf. Ein Gefühl von Größe und Macht der Natur stellte sich ein
Man könnte, so dachte ich, zwischendurch auch wieder Gedichte lesen; der musikalischen Sprache, dem Rhythmus und dem Gedankenspiel nachspüren. Man könnte sie auch erlernen. Nicht eben mit Schillers „Lied von der Glocke“ und seinen 19 Strophen beginnen. Aber endlich die zweite Strophe von Heinrich Heines zartem Frühlingsgesang im Gedächtnis verankern: „Leise zieht durch mein Gemüt / Liebliches Geläute. / Klinge, kleines Frühlingslied, / Kling‘ hinaus ins Weite. * Kling‘ hinaus, bis an das Haus, / Wo die Blumen sprießen. / Wenn du eine Rose schaust, / Sag ich laß sie grüßen.“ Im tiefsten Winter lässt dieser feine Klang Schnee und Eis auf der Seele schmelzen.
Vielleicht lerne ich auch Ludwig Uhlands „Frühlingsglaube“. Bei seinem Gedicht gefällt mir die zweite Strophe besser: „Die Welt wird schöner an jedem Tag, / Man weiß nicht, was noch werden mag, / Das Blühen will nicht enden. / Es blüht das fernste, tiefste Tal: / Nun, armes Herz, vergiß der Qual! / Nun muß sich alles, alles wenden!“ Jubel und Trost zugleich.
Der März tritt auf. Es regt sich das Bedürfnis, bei Karel Čapek nachzuschlagen, um für die bevorstehende Gartenarbeit sein wirksames Gebet zu verinnerlichen: „Herrgott, richte es so ein, dass es täglich von Mitternacht bis drei Uhr früh regne, aber langsam und warm. […] Ferner soll die Sonne den ganzen Tag über scheinen, aber nicht überall hin und auch nicht zu stark; dann möge es viel Tau und wenig Wind geben, genug Regenwürmer, keine Blattläuse, Schnecken und keinen Mehltau, und einmal in der Woche verdünnte Jauche mit Taubenmist regnen. Amen.“
Nun bin ich auf den baldigen Frühling gut eingestimmt und erfreue mich an den ersten Winterlingen, diesen kleinen gelben, botanischen Dreikäsehochs, standfest und vorwitzig. – Zusammenfassung: Das Allerbeste ist gewesen: / Das Wiederlesen.
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