24. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 202

Zwergkaninchen, Kolonialismus und die Apokalypse

von Günter Hayn

Vor zehn Jahren hingen an Gartenzäunen des Oderbruchs seltsame Transparente. Auf Bettlaken waren Strichmännchen nach Kinderzeichnungsart aufgebracht, dazu Inschriften wie „Oma † , Opa †, Mama + Papa †, Willy †“. Mit Willy war das Zwergkaninchen gemeint. Grund für diese makabere Art des Protestes war das Ansinnen des Vattenfall-Konzernes, in den Tiefenschichten unter dem Bruch einen Kohlendioxid-Speicher anlegen zu wollen. Die Protestierer beschworen äußerst wirksam eine territorial begrenzte Apokalypse. Vattenfall und die Landesregierung wichen zurück. Jetzt kocht der Widerstand gegen Windräder und Sonnenkollektoren hoch. So wirkungsmächtige Zeichen wie die erwähnten Todesstrichmännchen wurden dafür noch nicht gefunden. Möglichkeiten gäbe es: Aber den Blick auf die gigantischen Minenkrater im Kongo-Becken und in der Mongolei, auf die alles andere als umweltfreundlichen Verdunstungsanlagen in Südamerika scheuen die hiesigen Aktivisten – mit den Kollektoren müssten sie die eigenen Mobilfunkendgeräte und die Laptops in Frage stellen. Die Völker der Südhalbkugel zahlten den Preis für die Industrialisierung des Nordens. Sie werden auch für die Folgen des ökologischen Umbaus der Länder ihrer ehemaligen Kolonialmächte aufkommen müssen.

Natürlich sorgen wir uns um die Empfindungen der Afrikaner – zum Beispiel: Wir säubern unsere Kinderbibliotheken, entfernen die Denkmäler von Sklavenhändlern, benennen Straßen um und „dekolonialisieren“ die Depots unserer ethnologischen Museen. In der Pharmazie nennt man so etwas Placebo. Zur Wahrung unserer Interessen – das ist zuvörderst Erhalt und Ausbau unseres Wohlstandes – haben wir wirksamere Medikamente, die wir aus der Reihe Tanzenden ab und an verpassen.

Libyen, der Irak und Syrien sind so als ernstzunehmende Mitspieler im internationalen Machtpoker ausgeschaltet worden. Und wenn der Iran möglicherweise derzeit die Bombe nicht hat, seine „Schutzmächte“ haben sie. Sonst hätten wir die persische Frage auch schon geklärt. Im subsaharischen Afrika halten wir die diversen Konflikte so am Kochen, dass sich ja kein Gegengewicht zum westlichen Führungsanspruch ausbilden kann. Der ist bei Lichte gesehen nichts anderes als das Mandat auf nach wie vor ungestörte Ausplünderung des Kontinents durch die althergebrachten Ausplünderer. Die Beherrschungsmethode selbst hat sich seit den Zeiten der Sklavenschiffe nicht geändert. Die blutige Drecksarbeit überlassen wir den Afrikanern selbst. „Mittlerweile wissen wir, ohne die Hilfe des Westens gäbe es diesen Diktator [gemeint ist der ugandische Präsident Yoweri Museveni – G.H.] schon lange nicht mehr. Diese Länder sind Mittäter, sie interessieren sich nicht für Werte oder Menschen, sondern nur für Geschäfte“, zitiert die Süddeutsche Zeitung den ugandischen Oppositionsführer Bobi Wine. Treiben es die Diktatoren und Warlords des Südens zu arg, schalten wir Spendenkonten auf unsere Fernsehbildschirme, um nicht tagtäglich den Bildern verhungernder Kinder in Flüchtlingslagern ausgesetzt zu sein, die noch nicht einmal den Namen „Camp“ verdienen.

Solange sich Mexico in endlosen Drogenkriegen lähmt, Brasiliens Regierungen permanent am Rande des Bürgerkriegs lavieren und der auf Öl schwimmende einstige linke Hoffnungsträger Venezuelas sich als unfähig erweist, die eigenen Potenziale zu aktivieren – solange können auch die dortigen Verhältnisse zum Beispiel aus nordamerikanischer Sicht als stabil betrachtet werden, und außer gelegentlichen kosmetischen Eingriffen – das ist Sache der Geheimdienste – gibt es kaum Handlungszwänge. So gesehen scheint „die Geschichte“ tatsächlich ihr Ende erreicht zu haben. Der Rest ist Tagespolitik, in die noch nicht einmal die oppositionellen linken Kräfte im eigenen Lande ernsthaft hineinpfuschen.

Die träumen in Deutschland gerne von einem „Systemwechsel“, bemühen in Permanenz das Begriffs-Nichts „Richtungswechsel der Politik“ – und beschwören aus ihren Gelehrtenstuben heraus „Projekte von unten“. So kürzlich Dieter Klein in der Berliner Zeitung: „Eine solidarische Gesellschaft kann in bestimmten Maßen von unten wachsen, überall dort, wo sich Bürgerinnen und Bürger in selbstbestimmten Projekten und Initiativen für Verbesserungen in ihrem Leben und in der Gesellschaft engagieren. Selbstermächtigung ist ein Ausgangspunkt progressiver gesellschaftlicher Transformation.“ Die Bürger dürfen nur nicht mit den falschen Fahnen herumfuchteln.

Dass aus den Baumhäusern der Braunkohlegegner heraus die „große Erzählung des 21. Jahrhunderts“ in Richtung „Systemwechsel“ – mein Gott, was meint der Genosse Klein bloß? – nicht zu erwarten ist, weiß er selbst. Gegen Ende seines mehr theologisch denn philosophisch grundierten Textes wagt der Autor eine geradezu tollkühne Prognose: „Mitten im innersystemischen progressiven Wandel [„Baumhäuser“, Mieterinitiativen, Fair-Trade-Bewegungen – G.H.] wären bereits Einstiegsprojekte in eine systemüberschreitende Große Transformation zu suchen. Sie könnten dort entstehen, wo Konflikte von besonderer Bedeutung für das Leben vieler Menschen aufbrechen.“ Das ist die gute alte Leninsche Revolutionstheorie light. Nur nicht ganz so radikal. „Eigentumsfrage und das Proletariat“ waren die Mitte der „großen Erzählung“ von Marx und Engels, meint Ökonomieprofessor Dieter Klein und will statt der „Schreibtischentwürfe von Experten“ lieber „öffentliche Diskussionen über einen neuen Gesellschaftsvertrag“. Diesen alt-linken Latschen bemühte vor etlichen Jahren schon Gregor Gysi. Es klingt verführerisch, „Gemeinwohl“, „Gemeinwille“ … Nur: Der muss definiert und durchgesetzt werden. Robespierre wusste das, am Ende standen die Terreur und die Guillotine. Auch Lenin wusste das – und installierte die Tscheka und das GULAG-System. Ziemlich gemein das alles.

Auch Ludger Vollmer – wie Dieter Klein Mitglied der Gruppe „Neubeginn“ – sorgt sich im Blättchen 26/2020 um den Systemwechsel. Er zielt nur etwas höher. Ihm geht es um Menschheitsfragen, um den aus seiner Sicht (beinahe) unmittelbar bevorstehenden „katastrophale(n) natürliche(n) Super-Gau“ der Gattung Mensch, das Aussterben des Homo sapiens. Da ist sie wieder, die Apokalypsebeschwörung. Unter der scheint es nicht mehr zu gehen. Martin Burckhardt legte in Lettre international 131 eine Untersuchung über die erstaunliche Renaissance apokalyptischen Denkens genau zu einem Zeitpunkt vor, an dem die Menschheit erstmals in ihrer Geschichte die Möglichkeit hätte, den Schritt aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit zu gehen … Burckhardt stellt fest, dass die Apokalyptik seit Jahrtausenden Wiederholungscharakter besitzt und in ihrer verweltlichten Form eine besonders virulente Ausprägung hat: Wo die Himmelsleiter fehle, sei man „auf eine innerweltliche Realisierung verwiesen: die Stufenleiter einer fortgesetzten Verschärfung, Logik der Eskalation. Hier und jetzt!“ Corona sozusagen als letzter Warnschuss der geschändeten Erdmutter.

Überraschend ist der Schlussstein, mit dem Vollmer sein Weltuntergangsgewölbe krönt: die Bevölkerungspolitik. Die UN erklärte Ende der 1960er Jahre, die Erde werde um das Jahr 2000 von etwa 6,8 Milliarden Menschen bevölkert sein. Seinerzeitige Berechnungen ergaben, man könne locker 12 Milliarden Menschen ernähren, ohne die landwirtschaftliche Nutzfläche wesentlich auszuweiten. Ludger Vollmer meint, die im World Population Prospect 2019 der Vereinten Nationen festgemachten elf Milliarden (er rundet auf 10,8 Milliarden auf) als Wendepunkt im Bevölkerungswachstum der Menschheit seien „zu viele“. „Global verabredete bevölkerungspolitische Zielgrößen könnten sich an der durchschnittlich nötigen Reproduktionszahl von 2,1 Kindern pro Frau orientieren. Sie müssten in allen Regionen der Erde gegen religiöse, kulturtraditionalistische und patriarchalische Muster durchgesetzt werden.“ Preisfrage: Wo dominieren laut Vollmer solche „Muster“?

Um die Ursachen von Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsrückgang schert sich der Prophet nicht. Geradezu begierig nimmt er das Mantra der „Geburtenkontrolle“ auf. Die Verantwortung für die Notbremse wird den Menschen im globalen Süden zugeschoben. Die vermehren sich schließlich ungebremst! In diese koloniale Denke passen die realen Zahlen allerdings nicht. Prognosen von Forschern der University of Washington in Seattle gehen für das letzte Drittel des Jahrhunderts aus von einem Rückgang der Weltbevölkerung von 9,7 Milliarden auf 8,8 Milliarden im Jahre 2100. Das wäre weltweit eine Geburtenrate pro Frau von 1,66, derzeit liege sie bei 2,37. Selbst in China werde sich die Bevölkerungszahl halbieren. Das Wiener Wittgenstein Centre bestätigt diesen Trend.

Martin Burckhardt stellt bei allen von ihm untersuchten apokalyptischen Visionen fest, dass sie in ihrer Konsequenz regressiv sind. Bei Vollmer scheint Malthus die Feder geführt zu haben. Bei Lichte betrachtet unterwerfen sich sowohl er als auch Dieter Klein dem vermeintlichen Sachzwang der bestehenden Verhältnisse. Auswege aus dem linken Jammertal sind das nicht.