23. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2020

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: Damals in Schaubühnen-Zeiten. – Im Gedenken an Jutta Lampe.

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Anmutige Göttin, traumdurchtränkte Theaterzauberin; von wundergleicher Zartheit und porzellanener Empfindsamkeit; eine Schaum- und Kopfgeburt, entsprungen aus Vernunft und Sinnlichkeit… – Selten schwärmten Kritiker derart in ihren Erinnerungen wie jetzt an Jutta Lampe, die Anfang Dezember, kurz vor ihrem 83. Geburtstag, nach langer schwerer Krankheit in Berlin verstarb.

Von 1970 bis 1999 gehörte sie zum Ensemble der Schaubühne; Kenner sagen, sie sei damals dessen Seele gewesen. Als anno 1999 das neu berufene Leitungs-Team mit Thomas Ostermeier das weltberühmte Haus übernahm, wurde die legendäre Allstar-Truppe nicht verlängert. Doch Ostermeier holte Jutta Lampe 2003 zurück als Gast, um unter der Regie von Luk Perceval die vom Schicksal schwer geschlagene Titelfigur in Racines Tragödie „Andromache“ zu spielen. In meiner Rezension schrieb ich seinerzeit:

„Den Wechselbädern von Haltungen und seelischen Zuständen allein mit Rhetorik beizukommen vermag so nur eine Jutta Lampe, wobei sie geschlagene sechzig Minuten in allein schon orthopädisch schwieriger Haltung auf einem zwar symbolisch gemeinten, doch aus echten scharfen Glassplittern bestehenden Scherbenhaufen hockt. Als eine von seelischen Schmerzen und Zukunftsleere Ausgebrannte, ja Entrückte. Nur durch einen müden Augenaufschlag scheint die Vereinsamte zu atmen. Und allein sie ist imstande, mit einem zu Pyrrhus beiseite gesprochenen ‚Mach der Sache doch ein Ende, Junge‘ einen Weltuntergang auf die Bühne zu bringen. ‚Andromache‘ – von der Regie als geschliffenes Redestück auf den Sockel eines Denkmals vom selbstverschuldeten Menschenuntergang gestellt –, das geht nur mit Könnern wie Jutta Lampe. Denn der Schritt vom Pathos zum Gewöhnlichen, von der Redekunst zum Gerede ist winzig.“

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Diese zwiespältig aufgenommene Klassiker-Aufführung war damals der Anlass für ein ausführliches Gespräch mit ihr, und da war sie gar nicht traumdurchtränkt, sondern höchst hellsichtig und elegant plaudernd mit spitzer Zunge. Das Interview blieb unveröffentlicht. Sie wollte sich nach einigem hin und her letztlich doch nicht derart öffentlich positionieren. Publiziert wurden dann bloß einige Statements, eingebunden in einen Fließtext. Das umfangreiche Typoskript verblieb in meinem Privatarchiv; Auszüge daraus sind jetzt erstmals zu lesen.

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Jutta Lampe über Theaterfürsten

Ganz schrecklich: Das Prinzip ein Prinzipal, unter dem nur Gäste spielen. Theater muss vom Schauspieler her gedacht werden. Entscheidend dabei ist, dass da eine Truppe ist, die sich kennt und zusammen bleibt, die gemeinsame Interessen bindet und Kontinuität schafft. Man macht ja Theater nicht allein.

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Übers Stadttheater

Sein Sinn ist, Schutzraum zu sein. Zum ungestörten Ausprobieren von allem Möglichen und Unmöglichen. Laborbedingungen. Nur so kommt es zu diesem Reichtum an Formen, Bühnensprachen, Ausdrucksweisen, den wir immer noch haben. Ich weiß nicht, wie stark das öffentliche Bewusstsein brennt für diesen Schatz. Vielleicht sollte man wieder ganz von vorn anfangen, von unten. Mit kleinen schnellen Ensembles. Diese überdimensionierten Riesenapparate wie Hamburger Schauspielhaus oder Wiener Burg, entstanden in ganz anderen Zeiten, damit kann man doch gar nicht recht arbeiten.

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Über das, was jetzt die Mittdreißiger machen,
die Kinder von Claus Peymann, Klaus Michael Grüber oder Peter Stein, dessen Gefährtin Jutta Lampe siebzehn Jahre lang war

Neu ist eine total veränderte Form. Anders gesagt, alles ist viel zu viel Form, zu wenig Inhalt. Das prägt den Geist der Zeit. Das geht ganz stark ins Narzisstische, hin zum Vorbild Castorf. Die Stücke werden entweder kaputt gemacht oder man werkelt sie zurecht. Nimmt, was einem gefällt, dazu ein bisschen Musik und fertig. So etwa. Der Rest interessiert nicht. Das erscheint mir so geschmäcklerisch, so privat. Und die Schauspieler können sich nicht an der Vorlage orientieren, was ja gar nicht buchstabengenaue Texttreue meint, sondern Treue zu den Intentionen des Dichters.

Die zunehmende Wichtigkeit des Regisseurs ging ja schon durchs ganze letzte Jahrhundert. Mir geht das zu weit und einher mit Entmündigung der Schauspieler. Da ist auch viel Nichtwissen im Spiel, was man wiederum als neuen Blick aufs Ganze ausgibt. Dabei wird der Reichtum einer Figur nebensächlich, wie der Autor auch. Ich hoffe da – noch immer – auf eine neue Ernsthaftigkeit. Denn ich will nicht, dass man mir das Textbuch wegnimmt und etwas zuteilt, das oft gar nicht im Textbuch steht.

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Über den Schauspieler als Sportler

Das Artistische, Sportive steht total im Mittelpunkt. Kaum noch das Seelische, Psychische.

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Über Video

Bei „Andromache“ habe ich furchtbar gelitten unter der Videoarbeit. Es gab zwar Momente, wo man mit Blick auf den Monitor etwas begriff, was man gespielt hat. Trotzdem: Das von außen Gucken verdrängt den Blick aufs Innere. Man darf nicht zu kontrolliert arbeiten. Sich beim Spielen selbst zu kontrollieren ist das Blödeste. Videokontrollen ersticken die innere Freiheit zur Kreativität.

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Über Proben

Schlimm ist, wenn alles von vornherein festgelegt ist. Ansonsten: wer viel probiert entwickelt sich besser. Wird freier.

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Über das Publikum

Hat es immer schwerer zu kapieren, was auf der Bühne passiert; doch wird das unbegreiflicherweise weitgehend in Kauf genommen. Die Leute wollen zwar Geschichten, aber eben auch Bilder. Das Theater steht dazwischen. Und es herrscht Skepsis gegenüber dem Wort, gegenüber Pathos.

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Über die Regisseure Frank Castorf und Michael Thalheimer,
die immerhin mit starken Gefühlen arbeiten

Und mit viel Effekthascherei. Ich finde, sooo prickelnd emotional ist es eher selten. Und nicht nur wir Schauspieler merken in ein paar Jahren, dass es immer das gleiche ist; ziemlich simpel, weshalb Schauspielregisseure gern Oper machen, das schnell verdiente Geld.

Also wir haben die Qual der immer gleichen Arten des coolen distanzierten Sprechens oder Schreiens. Immer diese Einseitigkeit. Dabei will ich als Schauspieler nicht demonstrieren, wie man sich möglicherweise so allgemein fühlt. Ich will eine ganz andere, eine unbekannte Welt aufzeigen. Das macht doch den Beruf. Dazu gehören die ungenormten Gefühle, die Himmel, die Höllen.

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Über die Hauptsache im Theater

Es geht auf der Bühne immer um Nicht-Klischee, um Schicksal, um Individualität und auch um eine andere Welt als die, die man mit sich oder in sich trägt. Wir damals an der Schaubühne unter Stein haben nicht nur Menschen gezeigt, wie sie draußen auf der Straße rumlaufen. Wir haben versucht, den historischen Kontext der Figuren, beispielsweise die Antike oder die Shakespearezeit, mitzuspielen. Um die Figuren groß, weit und tief zu machen. Wir brachten einen Riesenfundus an Wissen und Mitfühlen ein; zuvor war kollektive Fortbildung. Gerade durch unser Zutun war es dann kein altes Stück mehr.

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Über die Schaubühne

Das war für mich immerhin ein ganzes Leben. Es war groß und schön. Ich blieb mir treu; mir und den Leuten in diesem Theater. Und dann kommt eben eines Tages das Vakuum.

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Über Tschechow

Ich war die Mascha in „Drei Schwestern“, zusammen mit Edith Clever und Corinna Kirchhoff als die beiden anderen; Regie Stein. Tschechow ist immer etwas ganz besonderes. Das hat mit diesem Mann zu tun, wie er schreibt. Das ist der Inbegriff von Humanität. Er findet Menschen, die mittelmäßig, blöd oder scheußlich sind. Aber er verrät sie nicht, wertet nicht. Er guckt und bezieht sich mit ein: Seht, so sind wir, so sind die Menschen. Da ist ein ganz großes Interesse und ein großes Wundern, Traurig- und Lustigsein. Er hat die ideale Distanz wie sie eben gute Ärzte haben. Und er ist immer irgendwie liebevoll. Und verzeihend.

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Über Musik

Früher habe ich die Beatles gehört, heute nur noch Klassik, Opern weniger, meistens Konzerte. Obwohl ich mit viel Oper aufgewachsen bin, viele auswendig kenne, gehe ich selten hin. Mein Großvater war Cellist und Arzt, es gab Hausmusik. Ich bin mit viel Musik aufgewachsen; Mama wäre gern Pianistin geworden – ich auch.

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Über Illusionen

Das mit dem Klavier gehört nicht zu den verlorenen Illusionen. Die wirklichen Verluste drehen sich um Utopien. Es war eine schöne und gesellschaftlich nicht so schwierige Zeit, als – wie wir fanden – die Visionen und Utopien einer besseren Welt noch beieinander lagen. Jetzt ist alles so zerfleddert, so auseinander gelaufen. Einerseits ist es immer dasselbe, anderseits ist alles anders. Aber vielleicht waren die Utopien doch nur Illusionen. Wie dem auch sei: Es ist hart.

Wie dieses dauernde Rechtfertigen als Künstler heute. Kunst ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Es ist, als würde die Gesellschaft sagen, diese und diese Kunst brauchen wir am allerwenigsten. Zudem bin ich entsetzt, wie an jedem Besitzständchen krampfhaft festgehalten wird. Dazu unpassend der gigantische Ausstoß an Künstlern von den Schulen. Früher sprachen zwanzig Anfänger vor an einer Klitsche, jetzt zweihundert. Freilich, der Moloch Fernsehen schluckt viel. Trotzdem: Was für eine Auswahl. Nie hatten wir so viele Schauspieler wie heute. Was für ein Potential. Bleibt die Frage, ob und wie es sich entfaltet.