23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Zum Kniefall in Warschau

von Holger Politt, Warschau

Ohne Zweifel war es die Stunde seines großen außenpolitischen Erfolgs. Władysław Gomułka hatte erreicht, was er seit geraumer Zeit mit allen Kräften angestrebt hatte: Bonns offizielle Zusicherung, die Westgrenze Polens an Oder und Neiße künftig nicht mehr infrage zu stellen und damit die territoriale Integrität des Landes zu akzeptieren. Willy Brandts Staatsbesuch in Warschau vom 6. bis 8. Dezember 1970, um als Bundeskanzler gemeinsam mit dem polnischen Regierungschef Józef Cyrankiewicz den sogenannten Warschauer Vertrag zu unterzeichnen, wird aus deutscher Sicht gerne als ein krönendes Element neuer Ostpolitik der Brandt-Scheel-Regierung herausgehoben. Ohne Brandts legendären Kniefall am Denkmal für die Helden im Warschauer Ghetto wäre das wegen des in der westdeutschen Öffentlichkeit höchst umstrittenen politischen Gehalts sicher nicht viel anders gewesen, doch seit der gleichermaßen überraschenden wie symbolhaften Geste in Warschau findet sich kaum noch ein Geschichtsbuch, in dem dieser vielleicht berühmteste Kniefall des 20. Jahrhunderts nicht verewigt ist. Allerdings gibt es auch eine polnische Geschichte dieser Tage, die oft vergessen wird, die – genau besehen – nicht weniger spektakulär ist.

Anfang September 1970 reiste der westdeutsche Kommunist Max Reimann nach Warschau, um im Auftrag Walter Ulbrichts mit Gomułka über Brandts Ostpolitik zu sprechen und zu sondieren, was es mit der offensiven Warschauer Westpolitik, die weder der DDR noch der Sowjetunion richtig in den Kram passte, auf sich hatte. Gomułka verteidigte sein Herangehen, verwies auf die jüngste Bewegung im deutsch-deutschen Verhältnis, unterstrich wohl etwas übertrieben, dass die DDR aus Warschauer Sicht in ökonomischer Hinsicht faktisch bereits zu einem uneingestandenen Nutznießer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geworden sei. Das bringe Polen bezüglich seiner Westgrenze zusätzlich unter Zugzwang, weil außerdem die erhoffte enge wirtschaftliche Integration zwischen Polen, der DDR und der ČSSR bislang ausgeblieben sei. Es gebe zwar regelmäßiges politisches Tamtam dazu, doch könne von einer wirtschaftlichen Kooperation nicht gesprochen werden. Und sollte in der DDR jetzt eine Volksabstimmung zur deutschen Vereinigung durchgeführt werden, wäre der Ausgang wohl klar. Soweit Gomułka, der bemüht war, dem deutschen Emissär reinen Wein einzuschenken.

Der verdutzte Reimann reagierte nun seinerseits, meinte entschieden, die Sowjetunion werde doch nicht zulassen, dass die DDR von der Bundesrepublik aufgesaugt werde, dass westdeutsche Monopole dort das Sagen bekämen, denn das wäre ein Schlag gegen den Sozialismus, gegen den die schwierigen Vorgänge kürzlich in der ČSSR nichts seien. Außerdem, so Reimann fast schon triumphierend, seien sowjetische Truppen in ausreichender Zahl dort stationiert, das wäre Argument genug gegen alle revanchistischen Gelüste. Darauf nun Gomułka mit dem entscheidenden Treffer, ob denn der Gast auch überzeugt sei, dass die Sowjettruppen dort für alle Zeiten stationiert blieben! Reimann gab zu, dass das wohl nicht der Fall sein werde, doch werde dann die DDR ökonomisch soweit sich entwickelt haben, um jeden scharfen Wettbewerb mit dem Westen auszuhalten.

Heute lässt sich gut feststellen, wer von den beiden Gesprächspartnern damals die richtige Prognose fällte. Das Ergebnis verblüfft sogar ein wenig, denn Gomułka blieb nicht mehr viel Zeit, sich im Glanze dieses großen Erfolges zu spiegeln. Bereits am 14. Dezember 1970 würdigte er auf dem Plenum des Zentralkomitees der PVAP den unterzeichneten Vertrag überschwänglich als ein Dokument, wie die tausendjährige Geschichte Polens keines kenne. Aus polnischer Sicht sei nunmehr die deutsche Frage gelöst, der deutsche Drang nach Osten für immer gestoppt. Gomułka würdigte am Schluss eines längeren historischen Abrisses das konsequente Ringen der Sowjetunion und der sozialistischen Staatengemeinschaft für die Absicherung der polnischen Westgrenze, wie sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden sei. Er wertete den unterzeichneten Vertrag als einen Ausdruck des realen Kräfteverhältnisses, denn Polens entschiedene Position sei nun von Bonner Seite per Vertrag bestätigt worden – die Anerkennung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs. Pflichtschuldig würdigte er auch mehrmals den im August 1970 in Moskau zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik unterzeichneten Vertrag, vergaß indes nicht, darauf zu verweisen, dass die Initiative für diese gewonnene diplomatische Schlacht von Warschau ausgegangen sei.

Doch kaum war die Tinte unter dem Warschauer Dokument getrocknet, kam es wegen nicht einfacher Lebensverhältnisse zum heftigen Proteststurm erzürnter Arbeitermassen in Polens großen Küstenstädten. Der brutale Einsatz von Schusswaffen und Panzern, um der Lage wieder Herr zu werden, kostete dem mächtigen Mann im Staate das Amt. Moskau entschied schnell, Gomułka fiel in Ungnade und verschwand alsbald in der politischen Versenkung. Geblieben ist sein unbestreitbares Verdienst um die polnische Westgrenze, die Grenze an Oder und Neiße. Diese nun ist heute eine der wichtigsten Voraussetzungen der Europäischen Union in ihrer heutigen Gestalt. Und die aktuellen Differenzen in den deutsch-polnischen Beziehungen, die trotz gutgemeinter Sonntagsreden mitunter sogar einen schärferen Charakter annehmen können, beweisen es erneut: Ein Segen für die beiden Nachbarländer, ein Segen für die EU, dass keine Grenzfrage instrumentalisiert und mit hinterlistiger Absicht in die momentan aufgeladene Debatte geführt werden kann.