23. Jahrgang | Nummer 22 | 26. Oktober 2020

Paul Schreyer und Covid-19

von Hans-Peter Götz

An den Anfang seines jüngst erschienenen Buches über die Coronakrise hat Paul Schreyer folgendes Statement gestellt: „Covid-19 ist eine für viele Menschen sehr gefährliche Erkrankung, die zu großem Leid geführt hat. Im Folgenden soll nichts davon verharmlost oder kleingeredet werden.“ Doch das hindert den Autor keineswegs am Blick hinter die Kulissen.

Dabei landet Schreyer bereits in seinem Prolog bei Bill Gates, der im April dieses Jahres eine Botschaft an die Welt verkündet hat – hierzulande immerhin über die ARD-Tagesthemen: „Wir werden den zu entwickelnden Impfstoff letztendlich sieben Milliarden Menschen verabreichen. […] Langfristig wird die Produktion so hochgefahren, dass alle Menschen auf unserem Planeten damit geimpft werden können.“ Wer eigentlich ist dieser Milliardär, fragt der Autor zu Recht: Die Weltregierung mit Verfügungsgewalt über sieben Milliarden Menschen? Und fügt hinzu: „Es ist zwar banal, aber man sollte dennoch immer wieder daran erinnern: Krankheiten schaffen Absatzmärkte für Medikamente und Behandlungsmethoden – je teurer, desto besser, je mehr Patienten, desto mehr Gewinn. Eine gesunde Gesellschaft kann per Definition nicht im Interesse dieser Industrie liegen.“ Gemeint ist Big Pharma.

Wow, damit hat Schreyer gerade mal 15 Seiten seiner Schrift benötigt, um sich in die Ecke zu manövrieren, in der Leute mit aufklärerischem Impetus heute häufig landen – bei den Verschwörungstheoretikern. Das hat der Autor offenbar kommen sehen und setzt sich daher in seinem Kapitel 1 nicht nur einfach mal damit auseinander – quasi präventiv, mit Blick auf alle nachfolgenden Kapitel –, sondern bricht ganz offen eine Lanze für das verfemte Phänomen.

„Der Begriff Verschwörungstheorie“, so Schreyer, „besitzt eine markante Besonderheit, die selten zur Sprache kommt: Er bedeutet nicht das, was er zu meinen vorgibt. Wer den Ausdruck verwendet, der beschreibt nur selten wirklich eine Theorie über eine Verschwörung. Das wäre auch wenig spektakulär. Verschwörungen gehören zum Alltag, insbesondere in der Welt der Wirtschaft, zu sehen etwa beim Dieselskandal oder bei geheimen Preisabsprachen zwischen Unternehmen […]. Auch politische Verschwörungen sind nichts Ungewöhnliches, nicht nur bei Staatsstreichen oder politischen Morden […]. Immer wieder verabreden sich Menschen im Geheimen zu Intrigen, um etwas zu erreichen, was sich in offener, transparenter und demokratischer Arbeit nicht durchsetzen ließe. Nichts anderes sind Verschwörungen.“

Doch habe, so Schreyer weiter, die „direkte Wortbedeutung der Verschwörungstheorie als ‚Vermutung über eine Verabredung zu einer strafbaren Intrige‘ […] nur wenig damit zu tun, wie der Begriff heute tatsächlich verwendet wird.“ Da gehe es nämlich „meist gar nicht um Wahr oder Falsch oder überhaupt eine ergebnisoffene Beweissuche. Vielmehr werden Verschwörungstheorien von vornherein pauschal als wahnhaft gedeutet und damit als eine Sonderkategorie dummen, unaufgeklärten, wenn nicht krankhaften Denkens. Diese Bedeutungsverschiebung ist bemerkenswert und wird selten diskutiert. In der heute üblichen Verwendung des Wortes können sich Verschwörungstheorien gar nicht als wahr oder falsch erweisen, da sie per Definition bereits vor ihrer Überprüfung falsch sind!“ Und: „Die große Gegenthese der Verschwörungstheorie-Warner lautet, dass politische Verschwörungen grundsätzlich unplausibel seien, dass niemand sich verschwöre und fast alles entweder Zufall oder Ergebnis chaotischer, nicht steuerbarer Prozesse sei.“ Dem läge eine „Art von Vertrauen“ in staatliche Autoritäten zugrunde, „die man auch als eine Mischung aus Bequemlichkeit und Opportunismus bezeichnen könnte“ und die „in den großen Medien weit verbreitet“ sei.

Demgegenüber sei „verschwörungstheoretische[s] Denken […] neugieriger, misstrauischer: Es schaut hinter die Dinge, will mehr erfahren, vermutet Täuschungen, gerade auch vonseiten der Autoritäten“. Wobei Schreyer auch die Kehrseiten solchen Denkens klar benennt: „Eine Schwäche dieses Denkens liegt in seiner Übertreibung von Kausalitäten. Es neigt dazu, Dinge ursächlich miteinander zu verkoppeln, die vielleicht bloß lose verbunden sind. Eine andere Schwäche des verschwörungstheoretischen Denkens liegt in seiner Negativität. Wo die Zufallstheoretiker in einer relativ heilen Welt leben (die sie sich nicht kaputt machen lassen wollen), stehen die Verschwörungstheoretiker oft nur einen Schritt vor der Apokalypse – und sind daher chronisch depressiv, missmutig und alarmistisch.“

Summa summarum formuliert Schreyer seinen Standpunkt folgendermaßen: „Fragwürdiges Wissen zu verbieten und aus der Diskussion ausschließen zu wollen, dient eben gerade nicht der Aufklärung, sondern lähmt und verdummt alle. […] Verschwörungstheorien, die die harmonische Erzählung der großen Eintracht von oben und unten in Frage stellen, entwickeln sich in so einer Situation zu einem Mittel geistiger Notwehr. Man sollte sie gründlich studieren und vorurteilsfrei prüfen – mit neugierigem Erkenntnisinteresse und ohne Weltuntergangsangst.“

Und ganz in diesem Sinne kann man dann die restlichen Kapitel von Schreyers Buch lesen – mit Übersichtsgewinn.

Paul Schreyer: Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte, Westend Verlag, Frankfurt/Main 2020, 176 Seiten, 15,00 Euro.