23. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2020

Lesenswertes zur Musik-Geschichte

von Joachim Lange

Der Opernbetrieb erwacht langsam aus der verordneten Erstarrung. Der Veranstaltungskalender füllt sich – wenn auch mit einem Restrisiko. Will man zumindest gedanklich dicht an der Oper bleiben, auch ohne in eine der nur zum Teil besetzten Zuschauerreihen landauf landab zu ziehen, so kann man diese freie Zeit für die Lektüre von sehr unterschiedlichen, aber jedes auf seine Weise interessanten Büchern zum Thema verwenden. Die versierten Autoren beziehungsweise Herausgeber haben dabei alle einen höchst subjektiven Zugang gewählt.

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Der langjährige Journalist, Operndirektor und Autor Bernd Feuchtner hat sich die Oper des 20. Jahrhunderts vorgenommen und durchstreift es am Beispiel von 100 Meisterwerken entsprechend ihrer Uraufführungschronologie. Diese Reise beginnt mit Hans Pfitzners „Die Rose vom Liebesgarten“ (1901) und Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ (1902) und endet mit Kaija Saariahos „L’Amour de Loin“ (2000). In der Auswahl prägnant beschriebener Werke finden sich etliche Filetstücke des Kernrepertoires, wie Strauss’ „Elektra“ (1909), Bergs „Wozzeck“ (1925), Brittens „Peter Grimes“ (1945), Reimanns „Lear“ (1978) oder Eötvös’ „Tri Sestri“. 

Das Spannende an diesem Opern(ver-)führer besteht darin, dass Feuchtner die Leser an seiner eigenen Entdeckerfreude teilhaben lässt. Seine Zeitreise lockert der Autor mit kenntnisreichen Exkursen auf: zum Weg der Veristen in die Arme von Mussolini. Zur Politischen Oper in den USA , in Lateinamerika und in „Berlin, Hauptstadt der DDR“. Was – abgesehen von Ostberlin – allemal eine überfällige Horizonterweiterung eurozentristischer Rezeptionskonventionen bietet. Mehr als der Vollständigkeit (man könnte natürlich eine Liste mit den Werken, die „fehlen“ entgegenhalten) widmet sich Feuchtner Meisterwerken, die der Repertoirebetrieb heute vernachlässigt oder die ambitionierte Häuser als Ausgrabung präsentieren. Hier liegt die Stärke dieser spezifischen Liebeserklärung an die Oper der Moderne ebenso wie in dem 26-seitigen Einleitungs-Essay, mit dem der Autor seinen Ritt durch ein atemberaubendes Opernjahrhundert einleitet.

Bernd Feuchtner: Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken, Wolke Verlag, 2020, 688 Seiten, 39,80 Euro.

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Ähnlich und doch ganz anders sind die zwei Bände, die Frieder Reininghaus gemeinsam mit Judith Kemp und Alexandra Ziane unter dem programmatischen Titel „Musik und Gesellschaft Marktplätze Kampfzonen Elysium“ herausgegeben haben. Auch hier entfalten der subjektive Zugang und der weite Blick ihren Charme. „Musik und Gesellschaft“ – bringt den Zugang auf den Punkt. Er liefert den methodischen roten Faden in diesem weitgefächerten, 1000 Jahre vor allem europäischer Musikgeschichte erfassenden Panorama, das mit den insgesamt 421 Essays von 107 renommierten Autoren (Musikwissenchaftlern, Journalisten, Praktikern) auf immerhin 1424 Seiten aufgefächert wird. Es geht um die unterschiedlichsten Perspektiven, mit denen auch abwegig scheinende Aspekte des Wechselverhältnisses zwischen den gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Musik und ihrer Rückwirkung in die Gesellschaft hinein betrachtet werden. Die Herausgeber setzen dabei auf intellektuelle wie auf eine leserfreundliche Opulenz der Ausgestaltung der beiden Bände. Sie sind eine pure Aufforderung, darin zu schmökern und vom historischen Hauptwanderweg abzuschweifen. 

Eine Ouvertüre mit einem Dutzend Essays zu grundlegenden Themen ist der Ausgangspunkt für eine Wanderung durch die Zeiten. Die Periode von 1000 bis 1839 wird in fünf Epochenabschnitte untergliedert: von „Kaiser. Ritter. Papst und Mönche“ und „Entdeckung. Renaissance. Reformationen“, „Konfessionalisierung. Barock. Rationalismus“ über „Aufklärung. Rokoko. Revolution“ bis zu „Restauration. Europäischer Aufruhr. Romantik“. Dabei wird Musik immer mit der weit gefassten Geschichte von Kultur und Gesellschaft rückgekoppelt.

Im zweiten Band geht es von 1840 bis 2020 von „Industrialisierung. Völkerfrühling. Migration“, „Imperialismus und Kunstgröße“ über „Moderne. Weltkrieg. Zwischenkriegszeit“ und „Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg“ bis hin zu „Neue Weltunordnung, neue Medien“, die die drei Jahrzehnte von 1990 bis in die Gegenwart umfaßt. Für das Jahrzehnt von 1990 bis zur Jahrtausendwende etwa stehen – methodisch beispielhaft folgende Beiträge nebeneinander: eine Position zum Begriff Postmoderne, zu Werken von Gerhard Rühm, Olivier Messiaen, Dieter Schnebel, Alfred Schnittke und Helmut Lachenmann. Aber auch über den Liedermacher Wolf Biermann, zum Thema Frauen im Orchester und Christoph Marthalers Musiktheater. Bis hin zur Internet-Tauschbörse Napster.

Es gibt Grundsätzliches zu Bruchstellen der Musik- und Realgeschichte. Aber auch der kommt auf seine Kosten, der etwas über die Eisenbahn und ihre Musik und zur Legende der Firma Steinway, über die Kaffeehausmusik oder den preußischen Mitlitärkapellmeister Piefke, über den New Orleans Jazz, die GEMA, oder darüber wie Richard Strauss der Reichsmusikkammerpräsident wurde und welche Rolle der Deutsche Schlager im Olympiajahr 1936 spielte, wissen will. Allein schon die Lektüre der 18 Seiten des ausführlichen Inhaltsverzeichnisses macht Lust aufs Stöbern und Sichverlieren. Die 37 farbig unterlegten Doppelseiten, mit denen jeder Epochenabschnitt quasi aphoristisch eingeführt wird, tun ein übriges. Die beiden Bände füllen mit Detail- und  Meinungsfreude, aber auch mit intelligentem Witz eine Lücke, die man sicher auch anders hätte füllen können. Aber so ist es eine pures Vergnügen, dessen Genuss man sich in viele Portionen einteilen kann.

Frieder Reininghaus, Judith Kemp und Alexandra Ziane (Herausgeber): Musik und Gesellschaft Marktplätze · Kampfzonen · Elysium, Band 1 Von den Kreuzzügen bis zur Romantik, Band 2 Vom Vormärz bis zur Gegenwart, Verlag Königshausen & Neumann, 1424 Seiten, 58,00 Euro.

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Der Theaterwissenschaftler, langjährige Dramaturg und Autor Eckhart Kröplin (*1943) hat mit seinem „Operntheater in der DDR – Zwischen neuer Ästhetik und politischen Dogmen“ den Vorteil, ein sozusagen abgeschlossenes Kapitel der Opern- und Theatergeschichte zu resümieren. Allerdings bestehen (zum Glück) nicht nur die allermeisten der Opernhäuser nach wie vor im neuen gesamtdeutschen Kontext fort. Auch von den Akteuren lassen sich die Bedeutendsten nicht einfach unter dem Label des untergegangenen kleineren deutschen Staates ablegen. Sie sind (wie Christine Mielitz oder Peter Konwitschny) nach wie vor aktiv oder waren prototypische Vertreter eines letztlich nicht von den politischen Rahmenbedingungen blockierten ambitionierten Musiktheaters. Walter Felsenstein, Götz Friedrich, Joachim Herz, Harry Kupfer oder Ruth Berghaus waren nie nur dem Operntheater in der DDR zuzuordnen. Ihre Arbeiten werden denn auch im Dritten, die 1970er Jahre behandelnden Kapitel „Liberalisierung der Kulturpolitik?“ als die „berühmten Fünf“ behandelt. Die vier Jahrzehnte, in denen die DDR existierte, liefern die Kapitel-Struktur für einen umfassenden Blick, quasi aus der teilnehmenden Binnenperspektive, auf die Aufführungspraxis und Rezeption, auf den Umgang mit neuen Werken und dem klassischen Erbe, auf die Rolle der Kulturpolitik und die der Kultur in der Gesellschaft – von der ersten Aufbruchseuphorie bis zur „finalen Agonie“ und der Wende.

30 Jahre nach dem Ende der DDR erscheint Kröplins historischer Rückblick gerade noch rechtzeitig, um nicht nur historisch interessant, sondern bei vielen Konfrontation mit noch lebendiger Erinnerung zu sein. Ein besonderes Schmankerl für den schnellen Zugriff ist der Anhang mit den wichtigsten Inszenierungen der Opernhäuser in Berlin, Leipzig und Dresden. Kröplin nimmt seine Leser in jedem Abschnitt auf die Reise in ein spannendes Kapitel der deutschen Kulturgeschichte mit. Genau dazu gehört nämlich das Operntheater in der DDR.

Eckhart Kröplin: Operntheater in der DDR. Zwischen neuer Ästhetik und politischen Dogmen, Henschel Verlag, 2020, 28,00 Euro.