23. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2020

Vom Gestrigen im Heutigen

von Wolfgang Brauer

Als ich mich der Friedrichsbrücke Richtung Berliner Museumsinsel näherte, erschien auf der Spree plötzlich die MS „Schöneberg“. Auf dem Oberdeck ein uniformiertes Blasorchester, das just im Moment der Annäherung an die Brücke die „Alten Kameraden“ erklingen ließ. Carl Teike schrieb den Marsch 1889, im selben Jahr verfasste Theodor Fontane seine Ballade „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“. Ich war auf dem Weg in das ehemalige preußische Finanzministerium. Heute heißt das Gebäude nichtssagend „Palais am Festungsgraben“. Aber in ihm spielt tapfer das kleine „Theater im Palais“ allen finanz- und kulturpolitischen Stürmen trotzend inzwischen in sein dreißigstes Jahr hinein. An jenem Abend war die Premiere der szenischen Lesung „Die Birnen von Ribbeck“ angesetzt. Nicht nach Fontane, sondern nach der Erzählung von Friedrich Christian Delius. Desssen Text erschien 1991.

Delius lässt einen Ribbecker Dörfler einen ellenlangen Monolog halten. Eigentlich wollte der nur erzählen, wie im Jahre 1990 eine Horde Bildungsbürger aus dem Osten (West-Berlin) in den Westen (Ribbeck bei Nauen) einfällt, ungebeten und ohne vorher anzufragen zur Erinnerung an Fontane, nein wohl eher zur Erinnerung an die guten Zeiten der alten Herrschaft, einen Birnenbaum vor das Schloss setzt. Es war die falsche Sorte und dann auch noch am falschen Ort. Herrlich lakonisch Intendantin Gabriele Streichhahn: „ … aber sie fragten nicht“. Damit wäre fast zu Beginn eigentlich alles gesagt. Aber aus dem Bericht wird eine großartige Geschichtserzählung „von unten“, die am Schluss im Birnenbrand-Delirium endet. Die Baumpflanzer spendierten dem Dorf eine Party mit Bier, Schnaps und Bockwurst. Woanders waren es die berühmten Bananen …

Regisseurin Annette Klare lässt den Text von drei Schaupielern vortragen, neben Streichhahn noch Jens-Uwe Bogadtke und Carl Martin Spengler. Es ist hübsch anzuschauen, wie jeweils ein anderer den alkohol- und rührungsbedingt abgerissenen Faden der Geschichte immer wieder aufnimmt und einen scheinbaren Sichtwechsel herbeiführt. Nein, das ist nur dramaturgisch eine hübsche Idee. Erzählt wird die bitterböse Geschichte einer Landnahme.

Der Birnbaum kommt 1990 nicht wie die Wohltat des alten Ribbeck für die Kinder des Dorfes, sondern als Raub-Symbol wie die Fahnen, die die Seefahrer aus der Zeit der europäischen Entdeckungsreisen in fremde Strände rammten. Die „unten“ waren blieben immer unten. Immer waren Herren über ihnen, die im günstigsten Falle wenigstens eine Birne für die Kinder in der Tasche hatten. Und was war nach der Verjagung der neuen Herren, der von nach 1945, die noch nicht einmal was von Landwirtschaft verstanden, um das Jahr 1990 herum? „Das war doch unser Sieg … und nicht ihrer …“, beklagt der Delius’sche Erzähler. Nicht der Sieg der Birnenbaumbringer aus dem östlich von Ribbeck gelegenen Westen! Welch grandioser Irrtum. Nein, „das Vergangene wächst wieder hoch unterm Gras“. Wer eine kleine Ahnung davon erhalten will, weshalb sich die, die immer „unten“ sind, im Osten Deutschlands so verhalten, wie sie sich augenblicklich verhalten, so „demokratieabweisend“, sollte sich diese Inszenierung ansehen. Sie gibt Antworten. Applaus!

Auf dem Rückweg war die Militärmusik verschwunden. Auf der nächtlichen Insel tanzten junge Menschen unter den Kolonnaden Lateinamerikanisches, vor der Nationalgalerie eine größere Gruppe im Schreittanz à la „Berlin Babylon“. Sie zelebrierten eine Feier des Lebens in der lockdowngezeichneten Stadt. Das ist schön zu sehen, aber die Mägde und Knechte bleiben wohl weiter Mägde und Knechte. Da ist keine Hoffnung. Nirgends. Nur ab und an für die Kinder eine Birne und für die Alten ein Birnenschnaps. Zumeist auch noch von der falschen Sorte.

Wieder am 19.9., 30.9., 1.10., 2.10. und 8.10.; aufgrund der pandemiebedingt geringen Platzanzahl sollte vorbestellt werden.

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Um zerbrochene Hoffnungen geht es auch in der neuen Inszenierung der Neuköllner Oper. Auf doppelte Weise: Da landet ein junger Mann aus Denver (Colorado), nachdem er in Südamerika zum Star wurde, im sozialistischen Deutschland und will „die DDR rocken“ – am Ende geht er in den Zeuthener See. Zerbrochen auch die Hoffnung der DDR-Oberen, den Star aus dem Westen irgendwie nutzbringend „im Interesse der Politik der Arbeiterklasse“, also ihrer eigenen, verwenden zu können. Die Rede ist von Dean Reed, 1971 in die DDR gekommen und 1986 hier aus dem Leben gegangen. Es waren wohl nicht nur persönliche Probleme, wie die Legende uns weismachen möchte. Reed steckte auch künstlerisch in einer Sackgasse, und die politischen Träume von der besten aller Welten erwiesen sich als fernab von jeglicher Realität. Heute ist er von vielen vergessen. Gerade deswegen versuchen die Neuköllner mit dem Musical „Iron Curtain Man“ eine Annäherung an diesen Künstler, der das Unvereinbare zu vereinbaren versuchte. „Sozialismus ohne Hüftschwung ist keiner“ – so eine Hälfte des Fazits am Schluss dieser bemerkenswerten Inszenierung … die andere: auch der Kapitalismus ist eine kranke Gesellschaft und sollte nicht das letzte Wort der Menschheitsgeschichte sein. Das Problem ist nur, die Inszenierung selbst deckt die gewollte Aussage nicht ab.

Claas Krause und Christoph Verworner, die für die Musik verantwortlich zeichnen, gelang eine schöne Wiederentdeckung der Reedschen Songs, die wie „Together“ oder „Susan“ nach wie vor berühren. Das Ganze wurde von Lars Werner und Fabian Gerhardt (der auch Regie führte) in eine Handlung eingebettet, die die Chronik der Reedschen Tragödie in Form einer Nummernrevue vorführt. Die Handlung rankt sich um die imaginäre Reise des gestorbenen Helden über den Styx in das Reich der Toten. Nur ist der mythologische Kahn in Neukölln ein Truck, Charon dessen langbeinige Pilotin und der Styx folgerichtig der Highway nach Colorado. Auf der Reise dorthin muss sich der Rocker von der Truckerin einige harte Wahrheiten anhören – und kontert mit der Gitarre und seiner Lebensgeschichte.

Weshalb das Drama dieses zutiefst politischen Künstlers so heftig auf die gescheiterten Beziehungen zu seinen Frauen heruntergebrochen wird, bleibt ein Geheimnis der Autoren. Wenn im Programmheft Dramaturgin Änne-Marthe Kühn erklärt, dass Dean Reeds Leben geprägt gewesen sei „von seinem Glauben an Gerechtigkeit, Völkerfreundschaft und Weltfrieden“, wird dieser Gedanke in der Inszenierung selbst ziemlich an den Rand geschoben. Das hat auch mit den Slapstick-Einlagen zu tun, mit denen das Trio Infernale Honecker-Mielke-Krenz sich gelegentlich einmischen darf. Diese Idee ist abgelutscht wie ein alter Drops und wirkt nur störend.

Dass die Person Dean Reed in fünf Figuren zerlegt wird, verhindert zumindest das Abgleiten in sentimentalen Revolutionskitsch. Dramaturgisch ist es ein bisschen viel an Zerrissenheit, aber die fünf Sänger-Darsteller meistern ihre Rollen ausgesprochen gut. Den nicht gerade unbescheidenen künstlerischen Heilsbringer Reed überzeugend darzustellen und ihn dabei als Persönlichkeit ernst zu nehmen ist schwer. Ein selbstverliebter Trottel, wie ihn die junge welt sieht, ist er auf der Neuköllner Bühne nicht. Gescheitert und zerbrochen schon. Und ein Mensch, dem es beschieden war, nie und nirgendwo anzukommen. Im Nachhinein erscheint es als merkwürdige Metapher, dass Dean Reed 1973 mit der Titelrolle des „Taugenichts“ in Celino Bleiweiß’ Verfilmung der Eichendorff-Novelle besetzt wurde. Sein Herumgesinge in diesem Film ist allerdings eher mäßig.

Insofern wirkt die von Gerhardt inszenierte Heimkehr des ungeliebten Sohnes Colorados in den Schoß Amerikas ziemlich kitschig. Real wurde der in Schmöckwitz beigesetzte Dean Reed 1991 von der Familie in die Heimat überführt. Solche Totenfahrt kann man inszenieren, wenn man Bob Fosse heißt und „All that Jazz“ dreht. Als Remake kann das nur misslingen.

Hier versuchen junge Theatermacher eine Annäherung an einen schon als Kind von Dad als „super boy“ programmierten Künstler, der der Illusion erlag, einer ziemlich steifen Gesellschaft den Hüftschwung beibringen zu können. Mit diesem Befund haben die Neuköllner nicht Unrecht – und die jungen Tanzenden auf der Museumsinsel tun genau das Richtige.

„Iron Curtain Man“ sollte man sich unbedingt ansehen, aber das eigene Dean-Reed-Bild und (für Menschen aus der DDR) erst recht das „innere Blauhemd“ möglichst vor dem Betreten des Saales am Kleiderhaken aufhängen. Uneingeschränkter Beifall gebührt allen Mitwirkenden für das erfolgreiche Ringen gegen den coronabedingt nur zu einem knappen Drittel besetzten Saal.

Wieder am 15., 16., 23., 24., 25., 26., 29. und 30. September. Auch hier ist die vorherige Buchung dringend empfohlen!