23. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2020

Russland als geistige Heimat

von Mathias Iven

Rainer Maria Rilke wurde im Juli 1914 von der jungen ungarischen Autorin Zsófia Dénes interviewt. Als das Gespräch auf seine Herkunft kam, erklärte er: „Ich entstamme einer slawischen Familie, und meine politischen Begriffe verwischen sich. Ich bin ein Prager, aber russischen Bluts, und es ist ein Zufall, daß meine Muttersprache das Deutsche ist.“ Woher kam dieses spezielle Selbstverständnis? Thomas Schmidt, der von 2015 bis 2018 künstlerischer Leiter des trinationalen Ausstellungsprojektes „Rilke und Russland“ war, ist dieser Frage nachgegangen und hat – man darf es so nennen – ein Lesebuch der ganz besonderen Art zusammengestellt. Neben zahllosen Auszügen aus Rilkes Korrespondenz finden sich darin Gedichte, Erzählungen, Aufsätze und Übersetzungen sowie Erinnerungen von Zeitgenossen. Entstanden sind die Texte zwischen 1898 und Rilkes Todesjahr 1926.

So wie bei anderen Künstlern und Intellektuellen wurde auch Rilkes Bild von Russland wesentlich durch seine Lektüre geprägt. Dabei spielten die real existierenden Zustände im Zarenreich und in der späteren Sowjetunion keine Rolle. Schmidt schreibt dazu in seiner Einleitung: „Seit den 1880er-Jahren wurde Russland zu einem Gegenbild des industrialisiert-dekadenten und zivilisatorisch-erschöpften Westens: ein Sehnsuchts- und Hoffnungsraum wie zur gleichen Zeit die Südsee-Inseln, wie das antike Griechenland und Italien in der Goethezeit oder das Mittelalter und Indien in der Romantik.“

Doch für Rilkes Verhältnis zu Russland und zur russischen Kultur sollte noch etwas anderes entscheidend werden. Zum einen begegnete er im Mai 1897 in München der 14 Jahre älteren Lou Andreas-Salomé. Sie, die in St. Petersburg Geborene, die mit 19 Jahren ihr Elternhaus verlassen hatte und kaum etwas von ihrem Geburtsland kannte, versuchte just in dieser Zeit, sich aus der Ferne die Kultur, Philosophie und Dichtung ihrer Heimat zu erschließen – Rilke ließ sich von ihrem Enthusiasmus mitreißen. Nur wenige Wochen nach dem ersten Zusammentreffen mit Lou kam es zu einer weiteren folgenreichen Begegnung. In Wolfratshausen lernte Rilke den Schriftsteller Akim Wolynski kennen. Beim Abschied übergab er ihm eine Abschrift seiner Erzählung „Alle in Einer“. Wolynski ließ den Text des zu dieser Zeit in Deutschland noch weitgehend unbekannten Autors übersetzen und veröffentlichte ihn in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift „Sewerny westnik“ („Nordischer Bote“). Rilkes erste Publikation in Russland war zugleich die erste Übersetzung eines seiner Texte überhaupt.

In ihrem 1898 veröffentlichten Porträt „Leo Tolstoi, unser Zeitgenosse“ attestierte Lou Andreas-Salomé dem russischen Wesen eine „tief vertrauende Einfalt und eine menschenliebende Passivität“. Dieses Urteil, das die russischen Schriftsteller mit ihren Büchern zu bestätigen schienen, sollte sich Rilke schnell zu eigen machen. Doch ob dem wirklich so war? Nur eine Reise nach Russland konnte darüber Aufschluss geben …

Am 25. April 1899 machten sich das Ehepaar Andreas und der 23-jährige Rilke auf den Weg. Der Orientalist Friedrich Carl Andreas sollte die Heimat seiner Frau kennen lernen. Für Lou, besonders aber für Rilke, wurde die Reise zu einer Art Erweckungserlebnis. Schon bei der Ankunft in Moskau erschien ihm „alles bekannt und altvertraut“. Wo er auch hinkam, „es war ein fortwährendes Wiedersehen und Winken: es war Heimath“. Emil Faktor, den Redakteur der in Prag erscheinenden Bohemia, ließ er wissen: „In Moskau merkte ich es zuerst: Dieses ist das Land des unvollendeten Gottes, und aus allen Geberden des Volkes strömt die Wärme seines Werdens wie ein unendlicher Segen aus.“ Und an anderer Stelle schrieb er, Moskau sei für ihn „eine neue Übersetzung des Wortes Schönheit“.

Nach gut sieben Wochen, die zumeist in Moskau und St. Petersburg verbracht wurden, war man zurück in Deutschland. Rilke – „der Erinnerungen und Eindrücke so voll, dass ich wenig Raum für Neues übrig habe“ – begann sofort mit den Vorbereitungen für eine zweite Reise, aber vor allem widmete er sich „mit Leib und Seele dem Studium des Russischen“. Dabei brachte er es soweit, dass er Puschkin und Turgenjew im Original las und einige Gedichte von Michail Lermontow, Konstantin Fofanow und Spiridon Droshshin ins Deutsche übertrug.

Im Mai 1900 war es endlich soweit. Dieses Mal reisten Rilke und Lou Andreas-Salomé allein. Zunächst hielten sie sich knapp drei Wochen in Moskau auf. Von dort machten sie sich auf den Weg nach Jasnaja Poljana, wo es am 1. Juni zu einer erneuten Begegnung mit Tolstoi kam, der sie bereits im Vorjahr empfangen hatte. Für Rilke und Lou, so schrieb sie in ihrem „Lebensrückblick“, bildete Tolstois „Gestalt gewissermaßen das Eingangstor zu Rußland“. Weiter ging die Reise nach Kiew, das Rilke nicht mochte, „weil es durch den Einfluß jahrhundertelanger Polenherrschaft manches von jenem russischen Wesen, das ich so liebe, eingebüßt hat“. Es sei, wie die Mutter erfuhr, zu „international geworden“. Ende Juni bestieg das Paar in Saratow ein Schiff und fuhr auf der Wolga bis nach Jaroslawl. Sie besuchten Spiridon Droshshin in Nisowka und trafen sich in Nowinki mit Nikolai Tolstoi. Dann ging es zurück nach St. Petersburg. Während Lou Verwandte in Finnland besuchte, war Rilke in den kommenden Wochen mit kunstgeschichtlichen Studien beschäftigt.

Am 22. August verließen sie die Stadt an der Newa und fuhren über Danzig nach Berlin, wo es Rilke nur einen Tag lang hielt. Einer zwei Jahre zuvor ausgesprochenen Einladung von Heinrich Vogeler folgend, traf er am 27. in der nahe Bremen gelegenen Künstlerkolonie Worpswede ein. Während seines bis Anfang Oktober 1900 dauernden Aufenthaltes versuchte er beständig, die Künstlerinnen und Künstler für die russische Malerei zu begeistern. In einem Brief an die Malerin Paula Becker, geschrieben im Oktober 1900, begründete er seinen Eifer mit den Worten: „Mir ist ja Russland doch das geworden, was Ihnen Ihre Landschaft bedeutet: Heimat und Himmel.“

Rilkes Russlandsehnsucht ging schließlich soweit, dass er sogar an eine Übersiedlung dachte. Anfang 1902 – inzwischen verheiratet mit der Bildhauerin Clara Westhoff und Vater einer Tochter – schrieb er an den Kunstkritiker Pawel Ettinger: Hier in Westerwede „weht ein Wind, der mir unerträglich ist“. Doch statt nach Moskau oder St. Petersburg führte Rilkes Weg im August 1902 nach Paris. Russland hat er nie wieder besucht. Am Ende, so fasst es Thomas Schmidt zusammen, blieb das „goldene Russland“ für Rilke „lebenslang ein Imaginationsraum, in den er die Kindheitssehnsüchte nach Geborgenheit in Kultur, Sprache und Religion hineinprojizieren konnte“.

Thomas Schmidt unter Mitarbeit von Julia Maas (Hrsg.): „Meine geheimnisvolle Heimat“ – Rilke und Russland, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 450 Seiten, 16,00 Euro.