Staatsverschuldung ist nicht gleich Staatsverschuldung. Argentinien, genauer: der argentinische Staat, ist zum wiederholten Male so gut wie pleite und kann seine jetzt fälligen Schulden nicht bedienen. Wie kann das sein? Argentiniens Schulden belaufen sich auf 323 Milliarden US-Dollar; das sind etwa 90 Prozent im Vergleich zu seinem Bruttoinlandsprodukt. Diese Schuldenquote liegt nur wenig über dem Durchschnitt der Euro-Länder von 85 Prozent. Japan hat eine Schuldenquote von 238, die USA von 135 Prozent, und trotzdem scheinen diese Länder weit entfernt zu sein von einem Bankrott. Staaten, wird gesagt, können kraft ihrer hoheitlichen Rechte eigentlich überhaupt nicht Bankrott gehen. Sie könnten alte durch neue Anleihen ablösen, Steuern erhöhen, ihre Ausgaben senken oder Staatseigentum verkaufen. Sie könnten ihre Schulden mit neu fabriziertem Zentralbankgeld zurückzahlen. Und schließlich könnten sie den Gläubigern sagen: Wir zahlen nicht oder nicht vollständig oder erst später. Im Prinzip stimmt das schon alles, aber eben nur im Prinzip. Worauf es ankommt, sind die aktuelle und erwartete Zahlungsfähigkeit und das Vertrauen der Gläubiger in sie sowie das ökonomische und politische Kräfteverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner. Wichtig sind auch die Anlagealternativen potenzieller Anleihekäufer. Der argentinische Staat will seine Ausgaben nicht weiter senken und Steuern nicht erhöhen; zu gut in Erinnerung sind die aufstandähnlichen Zustände vor knapp zwanzig Jahren, als das Land ebenfalls vor einer Pleite stand. Geld zu drucken scheint angesichts einer Inflationsrate von 50 Prozent auch keine Lösung, außerdem sind es vor allem Dollar-Anleihen, die im Feuer stehen; kein Mensch nimmt weiter an Wert verlierende Peso in Zahlung. Vor wenigen Tagen nun einigte sich die Regierung mit diversen Gläubigergruppen, darunter die bekannten Finanzmarktakteure Blackrock, Fidelity und Ashmore, von den jetzt zur Rückzahlung anstehenden 66 Milliarden US-Dollar 45 Prozent zu streichen und die Zahlungstermine für weitere Tranchen nach hinten zu verschieben. Hätte es keine Einigung gegeben, wäre es wohl zum neunten Bankrott in der argentinischen Geschichte gekommen. Die Gläubiger hätten dann womöglich weit mehr verloren. Besser, man hält den Schuldner am Leben; irgendwie kommt man vielleicht doch noch an sein Geld; immerhin ist Argentinien die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas. Schon bei der letzten Umschuldung dieses Landes haben „Aasgeier“, auf Finanzschrott spezialisierte Anlegerfirmen, notleidende Anleihepapiere zu Ramschpreisen aufgekauft; sie haben bei dem gegenwärtigen Schnitt wahrscheinlich noch gewonnen. Wer Schulden hat, der wird gegrüßt.
Das alte Sprichwort gilt aber nur, wenn der Schuldner über eine gewisse politische und ökonomische Kraft verfügt. Als Venezuela 1902 seine Auslandsschulden gegenüber Deutschland und Großbritannien nicht begleichen wollte, schickten diese ihre Marine, beschossen die Küste, versenkten ein paar Schiffe und zwangen das Land zum Einlenken. Auch gegenwärtig ist Venezuela kaum noch kreditwürdig und die Bank of England weigert sich, bei ihr eingelagerte Goldreserven des Landes herauszurücken. Venezuela fehlt die Kraft, dem etwas entgegenzusetzen. Nicht jeder, der Schulden hat, wird auch gegrüßt.
Der Schuldner Japan, das Land der mit großem Abstand welthöchsten Schuldenquote, wird gegrüßt. Zwar wird angesichts der Verschuldung mit über 10 Billionen Dollar, niedrigen Wachstums und deflationärer Tendenzen von „japanischer Krankheit“ gesprochen, aber trotz der extrem hohen Schulden gehen neue Anleihen mit negativer Verzinsung – wie im Falle Deutschlands – weg wie warme Semmeln. Der große Unterschied zu Argentinien, ganz zu schweigen von Venezuela: Japan ist zu 90 Prozent im Inland, in der eigenen Währung verschuldet und nicht von äußeren Kreditgebern abhängig. Es ist nach wie vor exportstark und die drittgrößte Volkswirtschaft der Erde; Arbeitslosigkeit und Inflationsrate sind gering. Seine Währungsreserven sind die nach China zweithöchsten der Welt. Der Yen ist nach US-Dollar und Euro die drittwichtigste Reservewährung. Weder nach innen noch nach außen hat es irgendwelche Zahlungsausfälle gegeben. Das Vertrauen potenzieller Gläubiger in die Zahlungsfähigkeit Japans ist mithin groß, die Ablösung alter durch neue Schulden funktioniert zumindest heute noch problemlos.
Niemand weiß genau, was angesichts der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise, die auch ohne coronabedingte Shutdowns längst an die Türe geklopft hatte, zukünftig passiert. Kapitalismus wäre kein Kapitalismus, könnte eine sichere Vorhersage getroffen werden. Und jede Krise ist auch eine Kreditkrise. Wenn Staatseinnahmen sinken, sinkt auch das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Staaten. Schmelzen dann noch die Vermögen potenzieller Kreditgeber dahin, kann es schon eng werden. Länder, die in der eigenen Währung verschuldet sind, können die „Druckerpresse“ anwerfen. In einer Krise mit sinkender Nachfrage ist die Inflationsgefahr erst einmal gering. Dadurch unterscheidet sich übrigens die gegenwärtige Situation Deutschlands unter anderem von der Lage nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Damals waren große Teile der Produktionskapazitäten zerstört und die Kriegsfinanzierung mittels Notenpresse hatte zu einem gewaltigen Geldüberhang geführt. Heute sind die Produktionskapazitäten zwar teilweise ungenutzt, aber nicht zerstört und können bei wieder wachsender Nachfrage relativ rasch reaktiviert werden. Natürlich ist die auch in Europa stattfindende Monetarisierung der Schulden, wie der Aufkauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank genannt wird, ein Spiel mit dem Feuer, aber es ist auch ein Zeitgewinn. Die privaten Geldvermögen – die Gegenposten von Schulden – steigen und überall dort, wo es entsprechende Nachfrage gibt, steigen auch die Preise. Gold, Immobilien, Aktien, Vermögenspreise generell boomen auch weiterhin. Aber mit der Monetarisierung werden mögliche, künftig wohl unausweichliche Verluste auch äußerst breit gestreut. Die von der Europäischen Zentralbank angepeilten knapp 2 Prozent Inflation entsprechen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt Deutschlands zwar der Riesensumme von jährlich 70 Milliarden Euro, die real „verloren“ gehen, aber die Durchschnittshaushalte haben sich an diese Inflation, die in Wirklichkeit wahrscheinlich sogar höher ist, längst gewöhnt. In den 1970er bis 1990er Jahren waren sie mehr als doppelt so hoch. Steigende Preise versprechen unter Umständen auch steigende Profite, was vielleicht wieder zu Investitionen anregt. Das eigentliche Problem liegt in der sozialen Asymmetrie sowohl der Wirkungen der gegenwärtigen Krise wie ihrer Bekämpfung. Für die Empfänger von Hartz-IV oder einer niedrigen Rente fressen diese zwei Prozent die nominelle Erhöhung ihrer Bezüge wieder auf. Der Verlust eines Millionärs liest sich zwar dramatisch, tut ihm aber nicht wirklich weh. Sozial noch enger wird es, wenn die künftigen deutschen Regierungen unter dem grundgesetzlichen Druck der Tilgungsverpflichtung bei vielleicht schwächelnden Staatseinnahmen wieder zu sparen beginnen.
Weltwirtschaftlich explosiv schon heute ist die Staatsverschuldung in vielen ärmeren Ländern, die zumeist im Ausland verschuldet sind und von denen inzwischen bis zu zehn Prozent Zinsen verlangt werden. Für 124 Staaten wird die Lage als kritisch eingeschätzt. Dort können schon Schuldenstände von weit weniger als 50 Prozent problematisch sein, wenn Rückzahlungen anstehen. Argentinien eingeschlossen stellten 19 Staaten bereits heute ihre Zahlungen ein, 80 Länder haben Hilfeanfragen beim IWF gestellt. Der Kapitalfluss hat sich längst umgekehrt; Kredite von IWF und Weltbank fließen über Tilgungszahlungen umgehend an die Investoren in den westlichen Finanzzentren zurück. Hinzu kommt die Kapitalflucht der wenigen Vermögenden in diesen Ländern, nicht zuletzt auch in amerikanische oder europäische Staatsanleihen. Wenn einige der größeren armen Länder kollabieren, bleibt das, neben der damit verbundenen sozialen Katastrophe, nicht ohne Einfluss auf das globale Wirtschafts- und Finanzsystem. Die Lunte brennt schon gefährlich nah an diesem Pulverfass. Wer Schulden hat, der wird gegrüßt? Kommt ganz darauf an.
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