Wer meint, der Maler Otto Modersohn sei nur zu trübsinnigen Moorbildern, dunkel eingetönt wie das Wasser der Wümme, fähig gewesen, wird sich in der aktuellen Sonderausstellung des Otto-Modersohn-Museums in Fischerhude bei Bremen eines Besseren belehren lassen müssen. Das Museum zeigt Arbeiten Otto Modersohns und seiner dritten Ehefrau Louise Modersohn-Breling – die beiden heirateten zwei Jahre nach dem Tod Paulas 1909 –, die Ergebnis mehrerer Reisen nach Franken in den Jahren 1916 bis 1927 sind. Für Modersohn waren die dort empfangenen Eindrücke vor allem der Landschaft von Main- und Taubertal so überwältigend, dass er seinen Malstil sehr grundsätzlich weiterentwickelte. Die Düsternis des Moores wich vielfach den lichtdurchfluteten Flusstälern – Iphofen und Wertheim erzwingen förmlich einen ganz anderen Blick des Künstlers. Die Hand des Malers wird entschieden lockerer. Diese Bilder haben eine spätimpressionistische Anmutung vom Feinsten. Die französischen Vorbilder – Corot, Cézanne, Renoir, auch van Gogh – lassen sich nicht leugnen. Otto Modersohn gibt gleichsam mit Pinsel und Palette eine künstlerische Antwort auf Carl Vinnens unsägliche Schmähschrift „Ein Protest deutscher Künstler“ aus dem Jahre 1911.
„Iphofen – Sonnige Mainlandschaft“ (1923), die 1924 in Wertheim gemalten Taubertallandschaften und vor allem das 1925 entstandene „Würzburg – Im Garten des Hofgutes ‚Neue Welt’“ sind ganz dicht an Paul Cézannes Flusslandschaften. Die Franken-Bilder ermöglichen noch einen ganz anderen Blick auf die Entwicklung der Modersohnschen Kunst: Ihm war die Auseinandersetzung mit den künstlerischen Positionen seiner malenden Frauen wichtiger, als man gemeinhin annimmt. Von Paula hinterlässt die Betonung der Fläche deutliche Spuren, Louises durchaus vom Expressionismus geprägtes Spiel mit Farbe und Licht – bemerkenswert: „Wertheim – nächtliche Eichelgasse mit Laterne“ (1922/24) – führt 1924 zu einem „Bilderwettstreit Wertheimer Gassenbilder“ beider Künstler, den meiner Meinung nach Louise gewinnt. Stadt, Stadtlandschaft, selbst die der Kleinstadt, waren niemals Otto Modersohns Ding, wenn sie sich nicht in die umgebende natürliche Landschaft einordnen ließen. Die Lichterfahrung allerdings, die Entdeckung des Sfumatos, die übernahm er in das Fischerhuder Spätwerk. Das wiederum ist nur auf den ersten Blick „Worpswede reanimiert“. „Fast alles Mittelmäßigkeit. Worpswede ist tot und bleibt tot“, notiert er im April 1935 anlässlich einer Ausstellung „50 Jahre Worpswede-Fischerhude“. Dass Otto Modersohn hier eine Eigenstellung behaupten kann, hat auch mit den Reiseeindrücken der 1920er Jahre zu tun. Es ist ein Gewinn, diese Bilder erleben zu können.
Otto Modersohn und Louise Modersohn-Breling. Die Reisen nach Franken 1916–1927, Otto-Modersohn-Museum, In der Bredenau 95, 28870 Fischerhude-Ottersberg, bis 26. Juli 2020 täglich 10 bis 18 Uhr; Katalog.
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Lichterfahrungen, genauer „Lichtspiele“, sind auch das Thema der diesjährigen Bilderschau im Dangaster Franz-Radziwill-Haus. Das Wohn- und Atelierhaus des Malers ist einer der wenigen fast im Originalzustand erhalten gebliebenen Künstler-Orte des 20. Jahrhunderts. Auf einen zusätzlichen Galerieanbau hat man verzichtet. Die Franz-Radziwill-Gesellschaft macht aus der Not der Enge eine Tugend und präsentiert in jährlichem Wechsel Bilder des Künstlers in einer thematischen, aufgrund des wenigen Platzes quantitativ immer stark beschränkten Auswahl am Ort ihrer Entstehung. Das vermittelt einen sehr eigenen Zauber, dem man sich nur schwer entziehen kann. Das Haus ermöglicht auf diese Weise einen stillen Dialog mit dem Werk, der andernorts so kaum möglich wäre.
Die diesjährige Ausstellung ist der Endpunkt einer auf fünf Jahre angelegten Ausstellungsserie des Museums, die sich mit formalen Aspekten des Werkes Radziwills auseinandersetzt und ihren Endpunkt bewusst im Jahr 2020 findet. Am 6. Februar war der 125. Geburtstag des Künstlers zu begehen. Die Fokussierung auf die Entwickung der Form ist mitnichten eine Flucht vor den schwierigen weltanschaulichen und politischen Fragen, vor die man immer wieder bei diesem in der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts solitären Meister des Magischen Realismus gestellt wird. Ich habe vor einiger Zeit im Blättchen auf die schwierigen Verstrickungen Franz Radziwills in der NS-Zeit hingewiesen – der Direktor des Oldenburger Landesmuseums, Walter Müller-Wulckow, nennt ihn 1949 einen „fragwürdigen Künstler“ und weigert sich bis zu seiner Pensionierung Radziwill auszustellen. Zeitgleich bemüht sich der Kommunist Otto Nagel, Franz Radziwill in der jungen DDR Ausstellungsbeteiligungen zu ermöglichen und nimmt deshalb durchaus persönliche Anfeindungen seiner Genossen in Kauf. Nagel wusste um die Ambivalenz von Werk und Biografie bei Radziwill. Sein eigenes Schaffen ist ebenfalls von solchen Widersprüchen gekennzeichnet. Und in seinen besten Arbeiten auch aus den Kriegsjahren zeigt sich der Künstler Franz Radziwill allemal klüger als der politische Mensch. Auch Nagels Geburtstag, das sei hier angemerkt, jährte sich vor wenigen Monaten zum 125. Male. Berlin hat den Geburtstag seines Ehrenbürgers de facto ignoriert. Das Verhalten seiner Museen kann man nur als schäbig bezeichnen. Oldenburg hingegen bietet noch bis zum 23. August mit 125 Werken – darunter der komplette Radziwill-Bestand des Landesmuseums – einen profunden Einblick in das Lebenswerk des Malers.
Aber zurück nach Dangast. Die Ausstellung präsentiert insgesamt 21 Gemälde aus dem Zeitraum von 1923 („Landschaft mit großem Schatten“) bis 1971 („Der Teufel allein hat den Strick nicht geschaffen“), davon die meisten Leihgaben aus Privatbesitz und eher selten zu sehen. 1923 ließ sich der Maler in Dangast nieder, seine Abkehr vom Expressionismus war vollzogen. Anstatt einer – wie zum Beispiel bei einigen Arbeiten Kirchners – geradezu fetischisierenden Sicht auf die Dinge, sucht er ihrem Wesen auf die Spur zu kommen, bildlich „hinter die Dinge“ zu schauen. Einem sich zur realistischen Methode konsequent bekennenden Maler wie Franz Radziwill bleibt da neben der Motivauswahl – die bei ihm zunehmend Arrangement, ja Collage wird – nur das Ausreizen der Möglichkeiten von Farbe und Licht.
Radziwill betreibt seine ureigene Adaption barocker Lichtmalerei – „Die Mücken“ (1930) sind eine schöne Verneigung vor den holländischen und flämischen Vorbildern – auf eine für das Auge des Betrachters teilweise kaum erträgliche Weise. Bereits „Dangast vom Meer aus“ (1924) zeigt ein Bedrohungsszenario, das sich über die nur schwer fassbare, die Apokalypse beschwörende „Friedhofsgärtnerei“ (1925) und die „Friesische Landschaft“ (1945) bis zur Endzeitvision des erwähnten 1971er Ölbildes steigern sollte. In dieses Themenfeld ordnet sich auch „Der Sturz des Ikarus“ (1960) ein. Ein selbst für Radziwills Verhältnisse einigermaßen hoffnungsloses Sujet. Natürlich liegt Ikarus zerschmettert in den Klippen – auf die auch noch ein Ozeandampfer scheinbar ungebremst zuhält –, aber die erstarrte Himmelskuppel über ihm bricht auseinander. Die kalte Schwärze des Alls beginnt die Szenerie zu dominieren. Es ist wohl eher Prometheus, dem das Ganze entglitten ist. Von einem dunklen Blau-Grau in die Schwärze übergehend ist auch der Himmel über Berlin im Bild „Die Berliner Mauer“ (1962) gestaltet. Radziwill hat ziemlich genau Elemente der Stadtlandschaft an der Bernauer Straße aufgenommen. Auch hier keine Hoffnung, nirgends. Nur Schatten blicken Richtung Ost-Berlin. Das kontrapunktisch gesetzte, leicht angeschmutzte Weiß ist eher ein Symbol für die zum Sterben verurteilte Stadt. Im wohltuenden Kontrast dagegen gesetzt in der Ausstellung einige bezaubernde Stillleben aus den dreißiger Jahren und sehr leise Landschaftsbilder.
Roland März nennt die Bilder Franz Radziwills in seinem Katalogbeitrag einen „dunklen Projektionsraum der Angst“. Dem ist nicht zu widersprechen. Hinzusetzen muss man allerdings, dass die Benennung der Ängste der erste Schritt zu ihrer Bewältigung ist. Wer in den nächsten Monaten in den Norden reist, sollte unbedingt den Abstecher nach Dangast unternehmen.
Franz Radziwill. Lichtspiele, Franz-Radziwill-Haus, Sielstraße 3, 26316 Dangast, Mittwoch bis Freitag 15–18 Uhr (vom 1.11. bis 23.12. in der Woche nur freitags), Samstag/Sonntag 11–18 Uhr; noch bis zum 10. Januar 2021; Katalog.
Schlagwörter: Apokalypse, Dangast, Fischerhude, Franken, Franz Radziwill, Lichtspiele, Otto Modersohn, Wolfgang Brauer