Die gegenwärtigen deutsch-russischen Beziehungen sind in einer schwierigen Phase, weil sie eben nicht einfach nur deutsch-russische Beziehungen sind. Gerade deshalb lohnt sich ein prinzipieller Blick auf die beiden Protagonisten.
Schauen wir zunächst auf Deutschland
Deutschland definiert sich nach seinen mörderischen und selbstmörderischen imperialen Aggressionen des vorigen Jahrhunderts nun als Teil der freiheitlich-demokratischen Wertegemeinschaft des Westens, die von den deutschen Eliten mehrheitlich als transatlantische Klammer verstanden und gelebt wird. Leider sind Russlandskepsis und Russophobie wesentliche Bestandteile dieses Transatlantismus, was die Entwicklung der Beziehungen zu Russland erschwert.
Deutschland ist anerkanntes Mitglied der NATO und unterwirft sich in sicherheitspolitischer und militärischer Hinsicht diesem transatlantischen Regelwerk, welches weitestgehend von den USA dominiert wird. Gerade hier bildet die transatlantische Russophobie eine wichtige Klammer der Rechtfertigung und des Selbstverständnisses der NATO und wird von den deutschen Eliten mehrheitlich mitgetragen. Fragliche Militärausgaben, Festhalten an der sogenannten nuklearen Teilhabe sowie deutsche Kampftruppen an der russischen Grenze sind nur verschiedene Facetten eines im Wesentlichen antirussischen Sicherheitsverständnisses.
Deutschland ist in wirtschaftlicher Hinsicht als Teil der EU in einer bedeutenden Geber-Nehmer-Position, die die Import- und Exportabhängigkeit Deutschlands in wirtschaftliche Stärke verwandelt. Ein deutscher Alleingang ist deshalb genauso schädlich für Deutschland, wie auch der Versuch einer Dominanz über andere EU-Staaten. Ebenso wenig kann Deutschland seine Außenhandelsabhängigkeit von den USA und China ignorieren. Deshalb beteiligt sich Deutschland an den Sanktionen der EU gegen Russland, verteidigt deutsche Firmen nicht gegen völkerrechtswidrige US-Sanktionen und liefert sogar vertrauliche Geschäftsdaten deutscher Firmen an US-Geheimdienste und Regierungsstellen. Folgerichtig unterstützt die deutsche Regierung Wirtschaftsbeziehungen zu Russland nur insoweit, wie diese für Deutschland von Nutzen sein können, ohne die anderen EU-Mitgliedstaaten tatsächlich oder vermeintlich zu schädigen und den US-Ambitionen nicht in die Quere zu kommen. Auch die zunehmende Skepsis und Distanzierung gegenüber der aktuellen US-amerikanischen Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik ändert nichts an der von den deutschen Eliten gewollten transatlantischen und russlandfernen Verankerung Deutschlands.
Fazit: Deutschland ist weder in ideologischer, noch in politischer respektive sicherheitspolitischer oder gar wirtschaftlicher Hinsicht souverän, weil es Souveränität im Sinne von Unabhängigkeit in der globalisierten Welt schon lange nicht mehr gibt. Dennoch könnte Deutschland seine respektable wirtschaftliche und politische Stellung in Europa und der Welt deutlicher für die Verteidigung der Interessen des deutschen Volkes gegen die Instrumentalisierung durch eine egozentrische fremde Macht nutzen. Ein derart begründetes und gelebtes Selbstbewusstsein – an Stelle einer selbstvergessenen Unterwürfigkeit unter den von tradierten und kurzsichtigen deutschen Eliten bevorzugten Dominator – ist allerdings nicht kurzfristig zu erwarten. In der Konsequenz wird Deutschland als europäisches Kernland weder den US-amerikanischen, noch den chinesischen Kolonisierungsversuchen entschlossener entgegentreten.
Zu diesem bedenklichen deutschen Weltbild gehört auch das fehlende Verständnis, dass Russland ebenfalls zum Spielball US-amerikanischer und chinesischer Bipolarität geworden ist. Leider haben die transatlantischen deutschen Eliten Russland nicht als europäischen Aktivposten betrachtet und es in eine zweifelhafte Juniorpartnerschaft mit China getrieben. So ist die Schwächung Russlands aus US-amerikanischer Sicht nicht nur eine Schwächung Chinas, sondern auch eines sich eventuell emanzipierenden Europas.
Deutschlands Eliten müssen sich deshalb fragen lassen, ob sie sich in einem transatlantischen, von den USA instrumentalisierten Europa von Lissabon bis Kiew einkuscheln oder mit anderen Europäern, im wohlverstandenen deutschen Interesse, an einem selbstbewussteren Europa unter Nutzung des gesamten Wirtschaftsraums von Lissabon bis Vladivostok arbeiten wollen.
Und genau wegen dieser Herausforderung sind die deutsch-russischen Beziehungen schon lange keine rein deutsch-russischen Beziehungen mehr.
Und nun der Blick auf Russland
Russland ist in gewisser Weise sich selbst genüge. Es ist auf zwei Kontinenten zu Hause und bildet als multinationales Land mit vielen Traditionen, Kulturen und Religionen durchaus eine eigenständige Minizivilisation mit jahrhundertejähriger Geschichte. Das XX. Jahrhundert wurde zum russischen Schicksalsjahrhundert. Die blutige Transmission des Zarenreiches zur Sowjetunion nach dem Ersten Weltkrieg, das Blutbad des Zweiten Weltkrieges, der Zusammenbruch der imperialen UdSSR und die aus deren Trümmern erfolgte Wiedergeburt Russlands führten jedoch nicht zum Verlust der Souveränität dieses Riesenlandes und zum Wandel des russischen Selbstbewusstseins. Das heutige Russland definiert sich nicht ideologisch, sondern russisch, respektive russländisch! Nicht westlich und nicht asiatisch! Und die russischen Eliten haben verstanden, dass Russland in seiner Einzigartigkeit keine natürlichen Verbündeten haben kann und haben wird.
Russland steht nicht vor einem sicherheitspolitischen Bündnisdilemma wie Deutschland, weil es „außer Armee und Flotte“ (wie bereits Zar Alexander III. sagte) keine festen Verbündeten hat. Dennoch sind russische Eliten nicht frei von der imperialen Erinnerung, dass Russland als Teil der UdSSR selbst Dominator eines Militärbündnisses war, das sich in seinem Kern gegen die USA und die NATO richtete. Diese USA-, respektive NATO-Bezogenheit wirkt bis heute nach und behindert auch jetzt oftmals die Wahrnehmung der EU und ihrer Mitgliedstaaten als potenziell relativ eigenständige Politiksubjekte. Je weniger sich das heutige EU-Europa aus seiner veralteten NATO-Unterordnung befreit und sicherheitspolitisch emanzipiert, desto weniger wird es in Russland ernst genommen. Die wachsende amerikanisch-chinesische Bipolarität hingegen erlaubt es Russland, seine einzigen Verbündeten – seine von der Tiefsee bis in den Weltraum handlungsfähigen Streitkräfte inklusive ihrer nuklearen Komponenten – so zu entwickeln, dass US-amerikanische Militäroptionen konterkariert werden, ohne sie übertrumpfen zu müssen. Deshalb sind militärische NATO-Aktivitäten an der russischen Westgrenze weit weniger interessant, als militärische US-Aktivitäten im Weltraum, in der Arktis, im Pazifik, oder im Nahen und Mittleren Osten.
Russland ist in wirtschaftlicher Hinsicht doppelt belastet. Einerseits leben drei Viertel seiner Bevölkerung in Europa, auf einem Viertel des russischen Territoriums, während sich die russische Rohstoffwirtschaft mit ihrem überdimensionalen Anteil am BIP mit wenigen Ausnahmen auf das asiatische Viertel konzentriert. Andererseits ist der russische Staatshaushalt ähnlich wie der Deutschlands exportabhängig, allerdings zu mehr als 50 Prozent vom Verkauf von Rohstoffen zu schwankenden Weltmarktpreisen. Dagegen erzeugte Deutschland 2019 pro Einwohner eine viermal höhere Wirtschaftsleistung vor allem in Gestalt von Industrieprodukten als Russland, was zu einer sehr viel besseren Diversifizierung und Stellung auf dem Weltmarkt führt. Dank seiner geografischen Größe hat Russland einen weitgehend sich selbst genügenden Binnenmarkt, wenn es denn seine Industrieproduktion diversifizierte und reformierte. Darauf zielt auch die von den westlichen Sanktionen provozierte Lokalisierungsstrategie ab. Da sie aber nicht so schnell greift, werden die technologischen Lücken zunehmend von China und nicht von Europa ausgefüllt. Russland passt ideal in das chinesische Beuteschema, weil Deutschland und die EU Russland als optimalen Zulieferer und ausbaufähigen Absatzmarkt abgeschrieben haben.
Fazit: Russland hat seine Souveränität in den postsowjetischen Jahren neu gestalten können, wenn auch mit den für alle Staaten geltenden globalisierungsbedingten Einschränkungen und Abhängigkeiten. Um nicht weiter in die chinesische Abhängigkeit getrieben zu werden, braucht Russland starke Stützen.
Der wichtigste Souveränitätsfaktor für Russland ist die eigene sozialökonomische Entwicklung. Während die Ressourcen dazu vorhanden sind, behindert das heutige politische und ökonomische System die notwendige Modernisierung des Landes. Der Großteil der russischen Eliten ist leider noch nicht bereit oder in der Lage seine selbstsüchtigen Interessen einer einheitlichen Strategie zur Stärkung Russlands unterzuordnen.
Während die von Russland verfolgte und an Bedrohungsperzeptionen im Hinblick auf Washington orientierte militärische Abschreckung durchaus souveränitätsfördernd ist, bildet die russische Wirtschaft die Achillesferse russischer Souveränität. Den stärksten Impetus könnte sie von den EU-Staaten erhalten, wenn denn diese sich von den transatlantischen Selbst- und Fremdbeschränkungen emanzipieren würden.
Das trifft insbesondere auf Deutschland zu, dass in einer ähnlichen Import-Export-Abhängigkeit wie Russland gefangen ist und wo sich die gegenseitigen Bedürfnisse ergänzen könnten. So bieten die russischen Modernisierungs- und Lokalisierungsinitiativen den perfekten Ansatz, über reine Außenhandelsbeziehungen zu einer beiderseits vorteilhaften Technologiepartnerschaft zu kommen.
Dazu müsste die russische Regierung aber auch die Kraft entwickeln, es im wohlverstandenen eigenen Interesse kooperationsbereiten Europäern zu erleichtern, die russophoben Bremsklötze in ihren Ländern zurückzudrängen. Das betrifft insbesondere die friedliche Auflösung der Konflikte in Transnistrien, der Ostukraine und im Südkaukasus, den entspannungsfördernden Umgang mit den russischen Nachbarstaaten und die Einhegung seiner europapolitisch kontraproduktiven und oftmals wenig professionellen propagandistischen und geheimdienstlichen Aktivisten.
Russland braucht eine neue partnerschaftlich orientierte Europastrategie, die auch den deutsch-russischen Beziehungen nicht nur neues Leben einhauchen, sondern diese vielmehr zu einem wichtigen friedensfördernden Pfeiler europäischer Emanzipation machen könnte.
Notabene
Russland braucht Europa zur souveränen wirtschaftlichen Entwicklung. Das Europa westlich der Grenzen Russlands, sowohl in seiner staatlichen Vielgestaltigkeit als auch in Gestalt der Europäischen Union tut sich schwer mit der Erkenntnis, dass es zur eigenen souveränen wirtschaftlichen Entwicklung auch Russland braucht. Darin macht die deutsche Regierung keine Ausnahme. Sie verteilt gegenwärtig millionenschwere Coronahilfspakete an krisengeschüttelte deutsche Unternehmen und verweigert ihnen gleichzeitig durch Festhalten an der antirussischen Sanktionspolitik selbstbestimmte Entwicklungsmöglichkeiten. Dabei ist es gerade die deutsche Wirtschaft, die gemeinsam mit ihren russischen Geschäftspartnern die deutsch-russischen Beziehungen unterfüttert und somit hilft, diese am Leben zu erhalten.
Schlagwörter: Deutschland, Russland, Siegfried Fischer