Wer meint, ein Schelmenroman müsse unbedingt lustig sein, hat den großen Stammvater Grimmelshausen nie richtig gelesen – und auch die Geschichte des Ritters von der traurigen Gestalt nicht verstanden. Um es gleich vorweg zu sagen: Eleonora Hummels neuer Roman „Die Wandelbaren“ ordnet sich in diese Tradition ein – und er besteht in ihr. Das Wesen dieser großen Erzählungen besteht genaugenommen darin, dass der Held von edlen Absichten geschüttelt in einer widrigen Welt nicht von ihnen lassen kann, auch wenn sie noch so sehr aus der Zeit gefallen scheinen. Bei Hummel sind es genaugenommen vier Helden, und sie konfrontiert diese mit fünf Welten, die unterschiedlicher nicht sein können.
Arnold Bungert ist 16, beinahe Traktorist, aber die Kolchose in der kasachischen Steppe, in der er arbeitet, hat zu wenig Traktoren. Dafür hat er beschlossen, die Bestmelkerin Nelli Schulz zu heiraten. Nelli weiß davon nichts. Aber der Vater, Kolchosvorsitzender, scheint den Braten gerochen zu haben. Er delegiert Arnold weg. Auf eine Schauspielschule, die ein deutsches Theaterensemble aufbauen soll, eine Idee des Generalsekretärs Breshnew, wie sich später herausstellt. Natürlich spricht Arnold kein einziges Wort Deutsch.
Violetta Kraushaar ist Literaturstudentin im ersten Studienjahr, quält sich mit einer Hausarbeit über Tolstoi herum – und möchte lieber Jane Austens „Sinn und Sinnlichkeit“ lesen, das gerade in russischer Übersetzung erschienen und ihrer derzeitigen Gefühlswelt entschieden näher ist. In dieser Situation rubbelt ihr die Mutter, Grundschullehrerin, eine Anzeige der deutschsprachigen Neue Zeit unter die Nase, in der zum Vorsprechen für eine deutsche Schauspielschule aufgerufen wird. Die Mutter will „der deutschen Stimme wieder Gehör“ verschaffen. Violetta erinnert sich zwar sehr dunkel an ein deutsches Wiegenlied, spricht aber natürlich kein einziges Wort Deutsch. Aber das Versprechen Moskau, das lockt.
Emilia Riedel hat sich von klein auf große Mühe gegeben, „ein anständiges sowjetisches Mädchen“ zu sein. Ihre Absicht, das Sowjetland im Ausland zu vertreten, scheitert. Ihr Versuch, „wenigstens im Innern für mehr Gerechtigkeit“ zu sorgen, also Jura zu studieren, scheitert trotz bester Prüfungsergebnisse auch. An der Nationalität „deutsch“, die steht im Pass. Natürlich spricht Emilia kein Wort Deutsch, das ist die Sprache der Faschisten. Aber die Eltern meinen, wenn der Name „Riedel“ ihr schon einmal einen Bonus verschaffe, dürfe man den nicht sausen lassen. Aber erst die Uminterpretation der Suche der Schauspielschule in einen Parteiauftrag bewegt Emilia zum Vorsprechen.
Oswald Munz hingegen will schon als Kind Schauspieler werden. Schuld ist das Fernsehen, genauer gesagt, die Nachrichtensprecherin Tamara Krasnowa, in die sich der Vierjährige verguckt. Oswald Munz spricht Deutsch, glaubt er jedenfalls. Anläßlich eines Konzertes der Stern-Combo Meißen in Zelinograd versteht er aber kein Wort. „ … das war nicht unser Deitsch“, stellt Oswald konsterniert fest. Bei diversen Aufnahmeprüfungen fällt er durch – wird jedoch „umgelenkt“ zum Vorsprechen für das deutsche Theaterensemble. Die Mutter unterstützt das. Sie will ihn weit weg von der geschiedenen Männerfresserin Anna mit fünf Kindern sehen.
Soweit die Exposition. Die Autorin nennt sie „Die Verheißung 1975“. Alle vier Kandidaten geraten tatsächlich nach Moskau an eine Theaterhochschule, absolvieren die mehr oder weniger ruhmreich, lernen recht leidlich Deutsch und finden sogar Gefallen daran, ein „Deutsches Schauspieltheater“ aufzubauen, das „ihren“ Leuten die von der Zwangsrussifizierung ausgetriebene Sprache und Kultur wieder nahe bringen soll. Wenn das schon nicht in Moskau möglich ist, dann doch wenigstens in der Hauptstadt der Republik, in Almaty, glauben sie. Da, wo ihr potenzielles Publikum lebt – oder zumindest leichter den Weg hinfindet. Statt dessen landet das Ensemble in Temirtau, einem während des Krieges errichteten metallurgischen Zentrum mit angeschlossener Wohnsiedlung mitten in der Steppe. Heruntergekommen und marode. Selbst das Wasser aus den Hähnen ist absolut ungenießbar. Hier hört der Spaß auf. Was jetzt folgt, ist ein erbittertes Ringen um die künstlerische, letztendlich um die menschliche Selbstbehauptung der jungen Leute. Die entwickeln sukzessive ein politisches Ziel. Sie kämpfen für die Wiederherstellung „der Republik“, der Wolgadeutschen ASSR selbstverständlich, die von Stalin mit dem Erlass des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 zerschlagen worden war. Sie nehmen die Phrasen von Perestroika und Glasnost wörtlich.
Wer jetzt meint, da habe sich Eleonora Hummel eine zu tolle Geschichte ausgesponnen, irrt. Am 26. Dezember 1980 wurde in Temirtau tatsächlich das „Deutsche Republiktheater“ eröffnet. In den 1980er Jahren umfasste die Truppe immerhin 52 deutschsprachige Schauspieler und brachte 40 klassische und zeitgenössische Stücke zur Aufführung, darunter auch Texte russlanddeutscher Autoren. Die jungen Theaterleute aus Temirtau gelten als Schrittmacher der deutschen Bewegung „Wiedergeburt“ in der Sowjetunion. Hummel beschreibt das Aufeinanderprallen der Träume der Arnolds, Emilias, Oswalds und Violettas mit den wechselnden Realitäten – nein, sie lässt ihre Protagonisten selbst erzählen. Das fesselt von Seite zu Seite mehr.
Das Buch ist kein „Hintergrundroman“, kein Geschichtsbuchersatz. Die wahre Geschichte der Russlanddeutschen – es ist die Geschichte von gut 2,7 Millionen Menschen – ist noch immer nicht geschrieben. Es wird noch einige Zeit dauern, ehe dies möglich sein wird. Macht- und parteipolitische Interessen, bis hin zu dubiosen Versuchen der Einflussnahme auf die Community durch das russische Außenministerium, erschweren das aufs Äußerste. Eleonora Hummels Roman – sie selbst wuchs die ersten zwölf Jahre ihres Lebens in Kasachstan auf – vermag aber beizutragen, das Geschehene den Nichtbetroffenen besser verständlich zu machen und den Betroffenen auf dem schmerzlichen Weg der Selbsterkenntnis Denkanregungen zu geben. Genau das, was die jungen Schauspieler von Temirtau beabsichtigten.
Hummels Roman ist eine große Erzählung über die Verteidigung des Menschlichen in unwirtlichen Zeiten und Umständen. Das ist ein Wert an sich. Nicht die Lebenshaltungen eines Simplicius oder Don Quijote sind überlebtes Zeug, die Verhältnisse sind es. Das gilt auch für „Die Wandelbaren“. Dem Müry Salzmann Verlag ist ein großer Wurf gelungen. Respekt!
Eleonora Hummel: Die Wandelbaren. Roman, Müry Salzmann Verlag, Salzburg – Wien 2019, 464 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: "Die Wandelbaren", Eleonora Hummel, Russlanddeutsche, Wolfgang Brauer