21. Jahrgang | Nummer 22 | 22. Oktober 2018

Der „Fall Lisa“ und Versäumnisse in der Integrationspolitik

von Medina Schaubert

Die erfundene Vergewaltigungsgeschichte eines minderjährigen Mädchens aus dem Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf im Januar 2016, der sogenannte „Fall Lisa“, brachte eine rechtsorientierte und antidemokratische Entwicklung innerhalb „russlanddeutscher“ und russischsprachiger Migranten-Communities ans Tageslicht, die schon länger unter der Oberfläche brodelte. Dabei spielten die Sozialisation der „postsowjetischen Migranten“ in der sozialistischen Diktatur sowie die gegenwärtige Medien- und Informationspolitik Russlands eine zentrale Rolle. Um das Geschehen in seiner Gesamtheit erfassen zu können, bedarf es einer Retrospektive. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden russlanddeutsche (Spät-) Aussiedler und deren Angehörige größtenteils in den westdeutschen Flächenbundesländern angesiedelt. In Berlin hingegen erfolgte deren Ansiedlung Russlanddeutsche gezielt im Osten. Die östlichen Plattenbaugebiete wiesen einen enormen Leerstand auf. Zurück blieben häufig die so genannten Verlierer der Wiedervereinigung. Diese projizierten ihre Verbitterung über eigene Missstände auf die neuhinzugekommenen Russlanddeutschen und warf ihnen Bereicherung am deutschen Staat vor, während sie selbst flächendeckend ihre Arbeit verloren.
Die teilweise aggressiven Anfeindungen der Einheimischen enttäuschten die Erwartungen vieler Russlanddeutscher so nachhaltig und tiefgreifend, dass sie sich zum Selbstschutz in eine Parallelgesellschaft zurückzogen. Ein weiterer Faktor, der diesen Rückzug begünstigte, war der diskriminierende Umgang der Ostberliner Behörden mit den Neuankömmlingen. Zum einen wussten die Ostberliner Beamten häufig nicht, wie diese Migranten zu beraten sind, da sie sich selbst in ein neues Verwaltungssystem einarbeiten mussten. Zum anderen projizierten auch sie ihre Frustrationen auf die Russlanddeutschen, indem sie die beispielsweise falsch berieten oder ohne triftigen Grund täglich bei sich erscheinen ließen. Im Sommer 2014 suchte das Team um den damaligen Geschäftsführer des Aussiedlervereins Vision e.V. in Marzahn-Hellersdorf, Alexander Reiser, das Gespräch mit der Kommunalpolitik und weiteren gemeinnützigen Akteuren im Bezirk, die auf den Gebieten Demokratieförderung und Integration tätig sind. Sie wollten auf die Besorgnis erregenden Entwicklungen innerhalb der russlanddeutschen und russischsprachigen Community in Marzahn-Hellersdorf aufmerksam machen. Seit Beginn des Ukraine-Konflikts im Februar 2014 konnte Vision e.V. einen wachsenden Einfluss russischer Staatsmedien auf die Community beobachten.
Diese, allen voran der Erste Kanal (Perwy Kanal), reagierten auf die Sanktionen seitens der Europäischen Union mit einer Verunglimpfung des Westens. Die russischen Medien propagierten eine „Dekadenz des Westens“ und den wirtschaftlichen Untergang Europas, der nicht zuletzt durch die Sanktionspolitik herbeigeführt werden würde. Plötzlich befürchteten die Menschen, dass die EU mit Deutschland als wirtschaftliche Spitze sich ins eigene Fleisch schneide. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis alle Menschen in Deutschland die Folgen zu spüren bekämen. Dieses Narrativ verfestigte sich bei vielen russischsprachigen Migranten und Aussiedlern. Schließlich hatten viele von ihnen nicht selten den kräftezehrenden Akt einer Auswanderung nach Deutschland in Kauf genommen, um sich wieder sicher fühlen zu können. Da die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler bis dato seit vielen Jahren nicht negativ auffielen und damit als gut intergiert galten, fand der Apell von Vision e.V. weder bei der Kommunalpolitik noch bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren die notwendige Resonanz. Alexander Reiser mahnte: „Es wird bald knallen, wenn keiner was macht“ – er sollte Recht behalten.
Während dann ab 2015 in den deutschen Medien die Ohnmacht der Regierung bei der Bewältigung des Flüchtlingsandrangs dauerpräsent war, konnten die Anwohnerinnen und Anwohner in den sozial schwachen Großsiedlungen in Marzahn und Hellersdorf aus ihren Fenstern zusehen, wie die oft überforderten Träger und ehrenamtlichen Helfer über Nacht Turnhallen und andere Gebäude in Flüchtlingsunterkünfte umfunktionierten. Gleichzeitig war vielen aber klar, dass Flüchtlingsunterkünfte in den wohlhabenden Siedlungsgebieten des Bezirkes nicht eingerichtet werden. Schulklassen und Kindergartengruppen waren durch die Neuzugänge überfüllt. Die russischen Staatsmedien griffen indes die Flüchtlingskrise auf, um einmal mehr „eindeutige Beweise“ für den bevorstehenden Untergang des Westens zu erbringen. Die Berichtserstattung konzentrierte sich auf eine für Europa verheerende Flüchtlingswelle und eine damit einhergehende angebliche Kriminalitätszunahme, derer in erster Linie Deutschland nicht mehr Herr werden könne.
Diese drei Faktoren – die Berichterstattung deutscher Medien, die eigenen Erfahrungen sowie der Einfluss russischer Staatsmedien – führten zu einer Verstärkung des Misstrauens gegenüber den Strukturen des deutschen Staates. Schrittweise bildete sich ein Nährboden für eine Eskalation wie den späteren „Fall Lisa“. Am 17. Januar 2016, berichtete die Tante des in Marzahn-Hellersdorf lebenden russlanddeutschen Mädchens Lisa unter Tränen im russischen Ersten Kanal, dass ihre Nichte von drei Flüchtlingen entführt und in einer Wohnung vergewaltigt worden sei. Die deutsche Polizei habe die darauffolgende Anzeige abgeschmettert. Höhnisch kommentierte der Reporter zum Schluss, er habe versucht mit der deutschen Polizei zu sprechen, jedoch sei an einem Sonntag dort niemand erreichbar. Angeblich hätten sich die Tante und der Onkel des Mädchens ohne das Wissen der Eltern an den Journalisten des russischen Senders gewandt.
Es vergingen keine 24 Stunden nach der Ausstrahlung des Berichtes, und innerhalb russischsprachiger Netzwerke in Deutschland machten wütende Aufrufe zu Demonstrationen gegen „Merkels Flüchtlingspolitik“, gegen Flüchtlinge selbst sowie gegen eine angebliche staatliche Vertuschungsstrategie in diesem Zusammenhang die Runde. Die Verbreitung der Aufrufe erfolgte dabei via Messenger-Dienste wie WhatsApp oder soziale Netzwerke wie Odnoklassniki, dem in der Generation der die Migration im Erwachsenenalter bewusst vollzogen habenden russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler populärem russischen StayFriends-Pendant. Es kam es zu zahlreichen Demonstrationen mit schätzungsweise 10.000 Teilnehmern, so auch vor dem Kanzleramt in Berlin mit geschätzten 1.000 Demonstranten.
Was war wirklich passiert? Die 13-jährige Lisa erhielt am Tag ihres Verschwindens ein schlechtes Zwischenzeugnis und wollte es vor ihren strengen Eltern verheimlichen. Das Mädchen übernachtete bei einem ihrer volljährigen männlichen Freunde. Um nicht auch noch dafür von der Familie bestraft zu werden, erzählte Lisa ihren Eltern nach ihrer Rückkehr, drei „Südländer“ hätten sie verschleppt, festgehalten und vergewaltigt. Die Eltern fuhren zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Bei der Befragung des Mädchens fiel der Polizei auf, dass sie zwischen verschiedenen Versionen wechselte. Daraufhin bat die Polizei die Eltern mit dem Mädchen allein sprechen zu können. Die Eltern interpretierten dies als einen Versuch, das Mädchen davon abzubringen, die Wahrheit zu sagen, um keine negativen Schlagzeilen zur Flüchtlingskrise zu riskieren. Schließlich sorgte ein Sprachproblem der Eltern sowie ihre mangelnde Kenntnis des administrativen Ablaufs dafür, dass sie davon ausgingen, die Anzeige sei abgewiesen worden und dass der Fall somit nicht weiter verfolgt werde. Bei allen der russischsprachigen Community bekannten Akteuren in Politik und Vereinswesen liefen aufgrund von zahlreichen wütenden Anrufen die Telefone heiß.
Tagelang wurden dann die Bitten der Aussiedlervereine um eine Stellungnahme von den entsprechenden Stellen mit der Begründung ignoriert, dass sich die Lage schon von selbst beruhigen werde. Zwischenzeitlich formierten sich erste Demonstrationen, die zunächst von der NPD am Einkaufszentrum „Eastgate“ in Marzahn organisiert wurden. Eine weitere unangemeldete und zahlreich besuchte Demonstration fand in Marzahn am russischen Lebensmittelgeschäft „Mix Markt“ statt. Auch hier mischten sich Vertreter der NPD unter. Die Polizei tolerierte diese Demonstration, bekam jedoch die Wut der Demonstranten stark zu spüren. Die Beamtinnen und Beamten wurden angeschrien, angespuckt und geschubst. Einige unbekannte Männer forderten die Demonstranten auf, direkt zu den Flüchtlingsheimen zu ziehen, um dort „für Ordnung“ zu sorgen.
Nun reagierten endlich auch Polizei und Politik. Allerdings ohne die Besonderheiten der Situation zu beachten. So veröffentlichte die Polizei eine Stellungnahme, die besagte, es hätte keine Vergewaltigung gegeben und dass man mehr nicht öffentlich machen könne, da es um den Schutz von Persönlichkeitsrechten des Mädchens gehe. Die Erklärung konnte die aufgeheizte Stimmung nicht mehr beruhigen. Auch die nun einsetzenden Aufklärungsversuche der Kommunalpolitik blieben zunächst wirkungslos. Die Lage entschärfte sich nur sehr langsam durch die gezielten, andauernden Aufklärungsversuche der Politik und der gemeinnützigen Akteure.
Wenn anfänglich noch die rechtsextreme NPD und die ebenfalls rechtsradikale Splittergruppe „Internationaler Konvent der Russlanddeutschen“ von der Situation profitierten, konnte später Verlauf die AfD den Fall für sich nutzen. Sie erfuhr in der Folge mancherorts großen Zulauf an Mitgliedern aus der russischsprachigen Community und schuf sogar spezielle Strukturen für sie: wie etwa die Vereinigung „Russlanddeutsche, Aussiedler und Spätaussiedler in der AfD“ in NRW oder gleichnamige Arbeitsgruppen in einigen Kreisverbänden. Nicht zuletzt sollte hervorgehoben werden, dass der russische Staat, wenn er vorher nicht um den Einfluss seiner Staatsmedien auf die in anderen Ländern lebenden Russischsprachigen wusste, nun Gewissheit haben konnte, die eigenen Medien bei Bedarf zur Schürung vergleichbarerer Konflikte effektiv nutzen zu können.
Schließlich stellt sich die Frage, wie es nun den Russlanddeutschen und den anderen russischsprachigen Migrantinnen und Migranten ergeht, deren Ängste und unzureichende Kenntnisse der Gesetzeslage und Abläufe auf perfide Weise ausgenutzt wurden. Vision e.V. fiel unmittelbar nach der endgültigen Aufklärung des Falls ein plötzlicher und massiver Rückgang der Teilnehmer an den sonst beliebten Aktivitäten auf. Die zuvor gern debattierten Themen wie Russlandsanktionen oder Flüchtlingsproblematik werden nur noch von den rechtsorientierten Aktivisten oder deren Gegenspielern fortwährend diskutiert. Die „Normalbürger“ mit russischsprachigem Hintergrund meiden diese Themen. Die Ereignisse rund um den „Fall Lisa“ haben deutlich gemacht, dass eine zielgruppenspezifische Ansprache der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler sowie der übrigen Migranten aus dem postsowjetischen Raum durch die Zivilgesellschaft, die politischen Parteien sowie die Bildungsträger notwendig ist.

Die Autorin ist Geschäftsführerin von Vision e.V. und lebt in Berlin. Der Beitrag ist eine für Das Blättchen überarbeitete Fassung eines Textes für das Dossier „Russlanddeutsche“ der Bundeszentrale für politische Bildung vom 9. Oktober 2018 (by-nc-nd/3.0/Autor: Medina Schaubert für bpb.de).