23. Jahrgang | Nummer 12 | 8. Juni 2020

Was ist dran an „Russiagate“?

von Petra Erler

Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf.
Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.

Bertolt Brecht, „Leben des Galilei“

Ist die Verdächtigung, Donald Trump sei „Putins Puppe“ (Hillary Clinton) legitim? Gab es ein politisches Komplott gegen Trump oder ist das eine Verschwörungstheorie der Republikaner? Hat Russland versucht, den Wahlkampf 2016 zu Lasten Hillary Clintons zu manipulieren? Inzwischen liegen Antworten auf dem Tisch: FBI-Dokumente, Unterlagen im Rahmen des geheimen FISA-Prozesses, 6000 Seiten Zeugenbefragungen durch den Geheimdienstausschuss des Kongresses 2017. Es gibt die Mueller-Untersuchung und den Horowitz-Bericht, einschließlich ungeschwärzter Fußnoten. Gerichtsverfahren fanden statt, Christopher Steele, Verfasser des gleichnamigen „Dossiers“, sagte im März vor dem Londoner High Court aus.

Wer alle Fakten seit 2016 analysiert, erkennt: Es gab zu keinem Zeitpunkt einen Beweis dafür, dass Trump oder Mitarbeiter mit Russland konspiriert hätten oder in russischer Hand wären. Es handelt sich um eine Schimäre. Es fehlt jeder direkte Beweis, dass russische Hacker Dokumente aus dem Hauptquartier der US-Demokraten (DNC) Wikileaks zuspielten. Die Firma Crowdstrike – die einzige, die das untersuchte – nahm es lediglich an. Der Mueller-Bericht blieb in dieser Frage vage. Die Behauptung, Petersburger Trolle hätten für den Kreml in sozialen Medien den Wahlkampf beeinflusst, ist in den USA vor Gericht zusammengebrochen.

Obwohl man es inzwischen besser wissen könnte, wird jedoch an allen Projektionen festgehalten.

John Podesta, ehemals Chef der Clinton-Kampagne, erklärte 2017, wie die Vermutung entstand, Trump könne zum Verräter geworden sein: Die Wahlkampfaussagen des Kandidaten zu verbesserten Beziehungen zu Russland hätten sich „gegen den außenpolitischen Konsens“ in den USA gestellt. Das habe alle Alarmglocken läuten lassen. Podesta war gar nicht bewusst, was er in Wahrheit enthüllte: Wer im politischen Kampf Verrat wittert, weil der Kontrahent einer veränderten außenpolitischen Orientierung das Wort redet, spricht jedem Wähler die Entscheidungsfreiheit darüber ab. Das ist der eigentliche Demokratie-Skandal. Der politische Skandal besteht darin, dass sich die Beziehungen zu Russland unter Trump weiter verschlechtert haben, aber heute niemand eindeutig abgrenzen kann, wie viel auf „Russiagate“ zurückzuführen ist und was allein auf Trumps Kappe geht.

US-Demokraten haben die unterstellte russische Wahleinmischung als „Kriegakt“ bewertet oder mit „Pearl Harbour“ und 9/11 verglichen. Gleichzeitig hatten sie keine Schwierigkeiten, dem mutmaßlichen „Verräter“ die größte Kriegskasse aller Zeiten zu geben, was die nukleare Modernisierung, Aufrüstung und die Militarisierung des Weltraums ermöglicht. Heute ist die Gefahr eines nuklearen GAUs größer als je, aber das ist aus dem Bewusstsein einer Mehrheit völlig verschwunden. Mittlerweile wird hinter allen möglichen Ereignissen, ob plausibel oder nicht, die lange Hand des Kremls vermutet. Eine russische Wahleinmischung 2020 gilt in Washingtoner Zirkeln längst als gesetzt.

Im Guardian schrieb Luke Harding, ein überzeugter Anhänger von „Russiagate“, im Jahre 2017, britische und weitere europäische Geheimdienste hätten schon 2015 Hinweise auf fragwürdige Kontakte zwischen Trump und Russland gehabt. Die Briten hätten die verschlafenen US-amerikanischen Freunde zum Jagen tragen müssen. „Nur die Russen lieben Trump“ (und würden ihn wählen), verkündete die BBC im März 2016. Zunächst bezahlt von Clinton und dem DNC, danach durch „The Democracy Integrity Project“, wühlen Steele und das investigative Unternehmen Fusion GPS seit 2016 im Dreck, um Trump den russischen Strick um den Hals zu legen. Nach den Wahlen machte die Clinton-Kampagne eine parteiische russische Wahleinmischung zur Haupterklärung ihrer Niederlage. Das stellte sofort die Legitimität der Trump-Präsidentschaft in Frage. Das Kalkül ist in der Washington Post vom 24. März 2017 im Artikel der einstigen Kommunikationschefin des Weißen Hauses und der Clinton-Kampagne, Jennifer Palmieri, nachzulesen.

In der „Lettermann-Show“ auf Netflix hat Barack Obama die Theorie einer illegitimen Trump-Präsidentschaft nicht unterstützt. Gleichwohl wurden in den letzten Tagen seiner Amtszeit Vergeltungsmaßnahmen gegen Russland beschlossen, gab es am 5. Januar 2017 ein Strategiemeeting zum Umgang mit Trump und seinem späteren Sicherheitsberater Michael Flynn wegen deren „Russlandverstrickung“. Am 6. Januar veröffentlichten drei Geheimdienste der USA ihren Bericht zur russischen Wahlbeeinflussung. Der wurde fälschlich lange als Bericht aller 17 Dienste ausgegeben und öffentlich mit dem Siegel der ehernen Wahrheit versehen, obwohl nicht einmal die handverlesenen Autoren behaupteten, ihre Einschätzung sei richtig. Auf Betreiben des FBI war eine geheime Zusammenfassung des „Steele-Dossiers“ beigefügt. Dessen Machwerk veröffentlichte Buzzfeed am 10. Januar 2017 mit der scheinheiligen Bemerkung, es sei ungeprüft, aber jeder solle sich selber ein Bild machen. Mittels eines Leaks skandalisierte die Washington Post am 12. Januar 2017 Telefonate von Michael Flynn mit dem russischen Botschafter, die nicht skandalös waren. So kam eine politische und mediale Lawine ins Rollen, die einige Menschen mit sich riss, aber vor allem immer wieder die Verheißung aufbaute, Trump vom Thron stürzen zu können.

Die Fakten weisen auf Amtsmissbrauch und eine Politisierung von Justizorganen und Geheimdiensten in den USA hin, was von der Obama-Ära in die Trump-Regentschaft reicht. Sie enttarnen öffentliche Lügen und eine von US-Demokraten finanzierte Desinformationskampagne. Sie stellen dem liberalen Mainstream ein verheerendes Zeugnis aus. Über mehr als drei Jahre wurden Falschaussagen, Gerüchte und Mutmaßungen als vermeintliche Wahrheiten kolportiert und geheimdienstlichen Quellen eine Autorität verliehen, die nicht bestand.

Um zu verstehen, wie das geschehen konnte, muss man das Konstrukt von „Russiagate“ durchschauen: Es verknüpft die politische Ablehnung von Trump und die politische Gegnerschaft zu Russland. Jeder Zweifel konnte so wahlweise oder kombiniert als Trump-Unterstützung und Russland-Hörigkeit niedergeschlagen oder mit dem Etikett „Verschwörungstheorie“ entwertet werden. Dabei verließen sich die „Russiagate“-Protagonisten darauf, dass die politische Ablehnung beider Elemente stark genug ist, dass ihre Theorien, die seit 2016 den globalen Informationsraum am Vibrieren halten und jede Menge Interessen bedienen, gern geglaubt würden. Da ein Teil der westlichen Gesellschaft Trump nicht nur für den größten Trottel hält, der je das Weiße Haus okkupierte, sondern ihn gleichzeitig als menschliche Inkarnation aller denkbaren verderblichen Eigenschaften und Überzeugungen ablehnt, fällt die Vorstellung leicht, der White-House-Regent sei ein Teufel von des Oberteufels (Putin) Gnaden.

Durch die faktenfreie Ideologisierung mutierte „Russiagate“ zu einer Frage des politischen Glaubens. Es setzt die Unschuldsvermutung außer Kraft, greift kritisches Denken aggressiv an und entflammt den inneren und äußeren politischen Konflikt. Trumps tatsächliche Fehlleistungen, aber auch die Anliegen der sogenannten kleinen Leute gerieten völlig aus dem Blickwinkel. Das ganze Ausmaß der Demokratieschädigung ist noch gar nicht absehbar. Kein noch so perfide ausgeklügelter Plan russischer Einmischung und Desinformation hätte die gleiche destruktive Kraft entfaltet.

Eine Umfrage zur vorgeschlagenen Einstellung des Verfahrens gegen Michael Flynn durch die Staatsanwaltschaft zeigt, dass eine knappe Mehrheit diesen Schritt befürwortet, aber gleichzeitig, dass in den Köpfen vieler Befragter (47 Prozent) das falsche Bild herumgeistert, Flynn sei angeklagt, weil er mit Russland konspiriert hätte.

Fast die Hälfte der Amerikaner ist demnach derart manipuliert worden, dass sie nach Bestrafung für ein Verbrechen lechzen, das nie begangen wurde.

Gegenwärtig tun die Propagandisten von „Russiagate“ ihr Möglichstes, die Fakten zu ignorieren. Wahlweise unterstellen sie Trump die Politisierung der Strafverfolgungsbehörden, Ablenkung vom Führungsversagen in der Pandemie oder verniedlichen das Problem. Chris Hayes landete im New Yorker am 10. Mai einen besonderen Treffer, als er erklärte, die russische Wahleinmischung hätte das FBI in „Verrücktheit“ und „Paranoia“ getrieben. Es gelang ihm problemlos, die eigene Beteiligung zu ignorieren, die Hauptschuld bei den Russen zu belassen und dokumentiertes Fehlverhalten im FBI-Führungszirkel kleinzureden. Logisch weitergedacht, führt Hayes Weltsicht allerdings zum Schluss, dass eine kühle Analyse aller Facetten von „Russiagate“ in geistiger Gesundheit mündet.

Manche sehen in der politischen Dynamik, die „Russiagate“ entfachte, die Wiederkehr der McCarthy-Ära. Man könnte auch an tiefes Mittelalter denken, das auf der Klaviatur der Instrumente des 21. Jahrhunderts spielt.