von Wolfram Adolphi
„Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. (…) Die Urheber barbarisch asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare. (…) Sie sind aus den Kriegsgefangenen sofort, d.h. noch auf dem Gefechtsfelde, abzusondern. Dies ist notwendig, um ihnen jede Einflußmöglichkeit auf die gefangenen Soldaten abzunehmen. Diese Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz findet auf sie keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen.“ Nicht oft genug kann das zitiert werden: dieses in seiner Unverblümtheit herausragende Zeugnis faschistischer Kriegführung, genannt „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“, erlassen am 6. Juni 1941 durch das Oberkommando der deutschen Wehrmacht und, damit nicht irgendwo Gelegenheit für Gewissensbisse oder gar Nachfragen entstehen konnte, mit dem Vermerk versehen, dass „die Verteilung nur bis zu den Oberbefehlshabern der Armeen bzw. Luftflottenchefs vorzunehmen“ sei und „die weitere Bekanntgabe an die Befehlshaber und Kommandeure mündlich“ zu erfolgen habe.
Ab dem 22. Juni 1941 durfte die Richtlinie in die Tat umgesetzt werden. 152 deutsche – und dazu unter deutschem Oberbefehl stehende 29 rumänische und finnische – Divisionen mit einer Gesamtstärke von fünfeinhalb Millionen Mann, 4.950 Flugzeugen, 2.800 Panzern und 47.000 Geschützen und Granatwerfern fielen an diesem Tag auf breitester Front in die Sowjetunion ein. Als sie 1944 wieder hinaus getrieben wurden, hinterließen sie über 25 Millionen sowjetische – russische, ukrainische, weißrussische, jüdische, kasachische, georgische, armenische, aserbaidshanische, estnische, lettische, litauische, moldawische, usbekische, tadshikische, turkmenische, kirgisische – Tote, Millionen Quadratkilometer verbrannter Erde, zerstörte Städte und Industrien, ausgelöschte Dörfer; hatten auch Millionen aus ihren eigenen Reihen den deutschen Eroberungsdrang mit dem Leben bezahlt. Und weil auf den fanatischen Angriff die fanatische Verteidigung folgte, dauerte es bis zum Mai 1945 und kostete es weitere hunderttausende Opfer auf beiden Seiten, dass der Krieg an seinen Ursprung, nach Berlin, zurückkam. Nichts, was seither geschah in Deutschland und Europa, ist zu begreifen ohne jenen 22. Juni vor siebzig Jahren.
Und darum hört der Kampf um seine Deutung nicht auf. Müsste er nicht ein allerwichtigstes Datum im deutschen Jahreskalender sein, dieser 22. Juni, der alles veränderte? Ein Tag des Innehaltens, ein Tag der Scham, und auch: ein Tag des besonderen Nachdenkens über das Russische, das Sowjetische, das Slawische? Das von Hitler und seinen Gefolgsleuten zum Untermenschentum gestempelt und damit zur straflosen Vernichtung freigegeben worden war?
Die russischen Anstrengungen in diesem Deutungskampf sind bemerkenswert. Ein einziger Band aus einer Fülle soll hier herausgegriffen werden, weil er mit einem Vorwort von Außenminister Sergej Lawrow besonderes Gewicht erhalten hat. „Partitura Wtoroj Mirowoj“ ist sein Titel – die Partitur des Zweiten Weltkrieges –, er ist im Jahre 2009 erschienen, und er enthält Aufsätze, die sich vor allem mit der These auseinandersetzen, wonach der Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 zum entscheidenden Auslöser des Krieges geworden sei. In solcher Lesart gerät die Sowjetunion schnell in den Ruch, doch eigentlich selbst Schuld an ihrem späteren Schicksal gewesen zu sein. Der Krieg das Aufeinanderschlagen zweier Diktatoren, von denen der eine – Stalin – auch noch so dumm war, dem anderen – Hitler – Glauben zu schenken. Da vermindert sich die Schuld Deutschlands als Aggressor, und die Rolle der Westmächte verschwimmt ganz und gar. Dem zu begegnen sind unter der Ägide der Historikerin Natalja Narotschnizkaja von der Stiftung Historische Perspektiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angetreten, die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges in ihrer ganzen Breite (wieder) in Erinnerung zu rufen, und was da zum Beispiel die bekannten Diplomaten Walentin Falin und Juli Kwizinskij zu sagen haben, darf nicht ungehört bleiben.
Natürlich, schreibt Kwizinskij, habe man in Moskau genau gewusst, was in Hitlers „Mein Kampf“ zu lesen war. „Die Pläne zur Eroberung von Lebensraum im Osten mussten misstrauisch machen.“ Zumal sie mit den „antisowjetischen Abmachungen Berlins mit London und Paris in Locarno 1925“ bereits eine außenpolitische Unterfütterung erhalten hatten. „Am 18. September 1931“, notiert Falin, schrieb Tokio mit dem Überfall auf Kasernen der chinesischen Armee in Mukden im chinesischen Nordosten „die erste Zeile der Chronik des Zweiten Weltkrieges“ – aber die USA, England und Frankreich „unternahmen nichts zur Verteidigung Chinas, riefen nur undeutlich (beide Seiten, übrigens) zur Beachtung der Charta des Völkerbundes“ auf. Kleine Splitter nur, die hier zitiert sein sollen. Splitter freilich, die auf langfristige Entwicklungen aufmerksam machen und den Blick für das öffnen, was als sowjetische Interessenlage hierzulande oft ausgeblendet bleibt. Die Sowjetunion, so heben die Autoren immer wieder hervor, musste stets mit einer doppelten Bedrohung fertig werden: mit der aus dem Westen und der aus dem Osten. Und das Münchner Abkommen von 1938 war ein diese Bedrohung enorm verschärfendes Ereignis, isolierte es doch die Sowjetunion und lenkte es den von keinem in Zweifel gezogenen Aggressionsdrang des deutschen Faschismus noch deutlicher als zuvor in Richtung Osten.
Der Überfall vom 22. Juni 1941 – auch das macht Kwizinskij unmissverständlich klar – war neben allem anderen auch Vertragsbruch. Bruch des Nichtangriffspaktes vom August 1939. Und dieser Pakt selbst – so viel auch Kritik an ihm geübt worden ist und geübt werden wird – war, so meint Kwizinskij, in seiner Zeit ein Nichtangriffspakt wie andere derartige zwischenstaatliche Übereinkünfte auch. Notwendig geworden, weil alle Anstrengungen der Sowjetunion, zu einem System kollektiver Sicherheit zu gelangen, fehlgeschlagen waren. Und das ist der Punkt, den Außenminister Lawrow in seinem Vorwort zum Buch in den Mittelpunkt stellt: Nicht um alte oder neue Schuldzuweisungen gehe es, sondern um die „Hauptlehre“ des Zweiten Weltkrieges, bestehend darin, dass „nur die Verwirklichung des Prinzips der Unteilbarkeit der Sicherheit zu einem dauerhaften Frieden in der euro-atlantischen Region und auf der ganzen Welt“ führen kann. Kollektive Sicherheit. Russische Vorschläge dazu liegen – Lawrow beschwört es geradezu – auch heute wieder auf dem Tisch. Der 22. Juni könnte ein Tag sein, an dem sie die ihnen gebührende Beachtung finden.
Schlagwörter: kollektive Sicherheit, Sowjetunion, Überfall, Wolfram Adolphi, Zweiter Weltkrieg