23. Jahrgang | Nummer 7 | 30. März 2020

Ende der großen Illusion

von Erhard Crome

Im Jahre 2017 publizierte Ivan Krastev einen klugen Essay über die Europäische Union (Das Blättchen No. 8/2018). Er ist Jahrgang 1965, stammt aus Bulgarien und arbeitet in Wien; jetzt hat er mit dem US-amerikanischen Rechtsprofessor Stephen Holmes, geboren 1948, ein lesenswertes Buch über das Scheitern der westlichen Liberalisierung der Welt nach dem Kalten Krieg geschrieben. Hier sind nicht nur zwei Autoren verbunden, die verschiedenen Generationen angehören; der eine bringt sowohl die persönliche Erfahrung des Realsozialismus und seines Sturzes mit als auch das Wissen um die sogenannte Systemtransformation im Osten Europas und die Innereien der EU, der andere die Kenntnis des staatsreligiösen Messianismus der USA.

Am Anfang reflektieren sie eine Frage, die Barack Obama gestellt haben soll, als er das Weiße Haus verließ: „Was, wenn wir uns geirrt haben?“ Die Frage war nicht: „Was ist schiefgegangen?“ oder: „Wer hat etwas falsch gemacht?“ Gemeint ist: „Was, wenn die Liberalen diese Ära, nachdem der Kalte Krieg zu Ende gegangen war, grundsätzlich falsch gedeutet hatten?“ Das Buch soll Antwort auf diese Frage geben. Die Autoren bekennen, sie teilten die Illusion, mit dem Ende des Kalten Krieges beginne „das Zeitalter des Liberalismus und der Demokratie“. Nicht ein, sondern „das Zeitalter“. Als Referenz dient wieder Fukuyamas „Ende der Geschichte“.

Tatsächlich setzte etwas ein, das die Autoren als „ein dreißigjähriges Zeitalter der Nachahmung“ bezeichnen. „Im Kalten Krieg trennte das weltweit folgenreichste Schisma Kommunisten von Demokraten.“ Nach dem Fall der Mauer „trennte der folgenreichste Riss am geopolitischen Firmament Nachahmer von Nachgeahmten, etablierte Demokratien von Ländern, die sich bemühten, den Übergang zur Demokratie zu schaffen“.

In Mittel- und Osteuropa sahen die neuen Eliten die Nachahmung als kürzesten Weg einer „Rückkehr nach Europa“ an, „eine imitierende Verwestlichung“ als „kürzesten Weg zur Reform“ und diese als Bedingung für eine Integration in die EU. Die „zentrale Ironie der postkommunistischen Demokratieförderung“ war nun: „Um die Bedingungen für eine EU-Mitgliedschaft zu erfüllen, wurden die mittel- und osteuropäischen Länder im Zuge des angeblichen Demokratisierungsprozesses dazu gedrängt, politische Strategien umzusetzen, die nicht gewählte Bürokraten aus Brüssel oder internationale Kreditanstalten gestaltet hatten. Die Polen und Ungarn bekamen gesagt, welche Gesetze sie erlassen und welche Politik sie machen sollten, während sie gleichzeitig so tun sollten, als würden sie sich selbst regieren. […] Die Wähler tauschten die Amtsinhaber zwar regelmäßig aus, doch die – von Brüssel vorgegebene – Politik änderte sich nicht.“ Der Versuch, „die ehemals kommunistischen Länder zu demokratisieren“ zielte „auf eine Art kulturelle Bekehrung“, die als „politische und moralische ‚Schocktherapie‘ die ererbte Identität aufs Spiel“ setzte.

Die „globale Finanzkrise von 2008“ versetzte „dem guten Ruf des Liberalismus den Todesstoß“. Drei Stränge weltweiter Revolte als „Reaktionen auf den vermeintlich kanonischen Status westlicher Politikmodelle nach 1989“ waren die Folge, Gegenstand der drei Hauptkapitel des Buches: (1) der Populismus in Mitteleuropa, deren Wortführer Viktor Orbán in Ungarn und Jaroslaw Kaczynski in Polen sind; (2) der Abschied Russlands unter Wladimir Putin von einer „imitierten Demokratie“ und der Übergang zum „Spiegeln“ westlicher Machtpolitik; (3) die Wahl Donald Trumps in den USA und dessen Politik, die Nachahmer innerhalb der liberalen Weltordnung als Konkurrenten und Bedrohung anzusehen. Ein resümierender Abschnitt behandelt die kommende Rolle Chinas.

Der Aufstieg des autoritären und fremdenfeindlichen Populismus in Ostmitteleuropa resultiert nicht aus politischer Theorie, sondern aus „der politischen Psychologie“. Er drückt „eine tiefsitzende Abscheu gegenüber“ dem „Nachahmungsimperativ“ und „seinen erniedrigenden und demütigenden Implikationen“ aus. Da ist zunächst die Abwanderung der jungen Generation. Wenn die ehemals kommunistischen Länder „nach Europa“ zurückkehrten, warum sollte ein junger Pole oder Ungar warten, dass es in seinem Land wie in Deutschland wird, wenn er jetzt schon in Deutschland arbeiten und leben konnte? Genannt wird, dass Lettland von 1989 bis 2017 27 Prozent seiner Bevölkerung verlor, Litauen über 22 Prozent, Bulgarien 21 Prozent; zwei Millionen Ostdeutsche gingen nach Westdeutschland, 3,4 Millionen Rumänen verließen das Land. Stellte schon die Entvölkerung die Existenzfrage der Nation, so verschärfte sie sich mit der Flüchtlingskrise nochmals. „Für die illiberalen Demokraten Ost- und Mitteleuropas besteht die größte Bedrohung für das Überleben der weißen christlichen Mehrheit des Kontinents in der Unfähigkeit der westlichen Gesellschaften, sich selbst zu verteidigen.“  Deshalb sehen sich Orbán und Kaczynski als die „wahren Europäer“, die die europäischen Werte verteidigen. Ihr Feindbild richtet sich jedoch nicht gegen den Multikulturalismus, sondern gegen Individualismus und Kosmopolitismus.

Ein wesentlicher Punkt ist, dass beim Nachahmungsimperativ die deutsche Vereinigung und Deutschland als das eigentliche Muster unterstellt waren. So erscheint aus nationalistischer Sicht der offizielle „enthistorisierte Postnationalismus und kulturell indifferente Verfassungspatriotismus“ als „eine neue ‚deutsche Ideologie‘, mit der die östliche Peripherie Europas kleingehalten und ganz Europa nach Berliner Interessen regiert werden soll“. Von hier kommen die nicht nur gegen Brüssel, sondern auch gegen Berlin gerichteten Positionen aus dem Osten der EU. Eine kritische Perspektive auf die anhaltende nationale Orientierung in diesen Ländern verkennt, dass sie nach dem ersten Weltkrieg aus dem Zusammenbruch multinationaler Reiche hervorgingen und der Widerstand gegen die Hegemonie Moskaus nicht nur der Begeisterung für liberale Werte, sondern zugleich einem entschlossenen nationalistischen Widerstand entsprang. Am Ende hatte die „verwestlichende Revolution – sehr zum Entsetzen des fassungslosen Westens – eine antiwestliche Konterrevolution“ zur Folge.

Der Zerfall der Sowjetunion bedeutete für Russland den Verlust des Supermacht-Status. Es verwandelte sich „von einem angsteinflößenden gleichwertigen Rivalen zum Problemfall, der um Unterstützung betteln und die Ratschläge wohlmeinender, aber schlecht vorbereiteter amerikanischer Berater entgegennehmen musste, wobei es noch Dankbarkeit zu heucheln galt.“ Kandidat für NATO oder EU war es nie, wegen seiner Größe, seiner Nuklearwaffen und es „war sich seiner eigenen ‚historischen Größe‘ bewusst, was mit einer Position als Juniorpartner in einem westlichen Bündnis unvereinbar war“. Das Kapitel zu Russland ist überschrieben: „Nachahmung als Vergeltung“. In den 1990er Jahren simulierte der Kreml Demokratie, um Druck westlicher Regierungen und NGOs abzumildern, und schuf „Potemkinsche Kopien westlicher Institutionen“. Die Wirtschaftskrise 1998 und der NATO-Krieg gegen Jugoslawien zeigten jedoch, dass das Ende des Kalten Krieges kein gemeinsamer Sieg war, der auch das russische Volk einschloss. Putin gab dem Land ab 2000 das Profil einer modernen Macht. Ab 2012 habe er Russland jedoch in „geopolitische Abenteuer“ gestürzt, wozu die Autoren vor allem die Annexion der Krim rechnen. Die Ursache sehen sie vordergründig in einer Angst des Kreml vor einer „Farbrevolution“ in Moskau analog dem Kiewer Maidan – und befinden sich hier in trauter Übereinstimmung mit den unverständigen deutschen Kreml-Astrologen. Dass es wirklich um geopolitische Machtverhältnisse geht, die nicht westlicher Vorherrschaft überlassen bleiben sollen, wird verdrängt.

Richtig ist dagegen die Feststellung: „Putin träumt nicht davon, Warschau zu erobern oder Riga wieder zu besetzen. Im Gegenteil, seine Politik ist […] Ausdruck eines aggressiven Isolationismus, ein Versuch, den eigenen Kulturraum zu konsolidieren.“ Hier ordnen Krastev und Holmes denn auch das „Spiegeln“ US-amerikanischer Außenpolitik in den vergangenen Jahren ein. Dass sich die USA regelmäßig in Wahlen in anderen Ländern einmischen, ist bekannt, so 1996 auch in Russland. Die russische Einmischung in die US-Wahlen 2016 – die die Autoren als Tatsache voraussetzen – habe nicht darauf gezielt, Donald Trump ins Weiße Haus zu bringen, sondern den USA und aller Welt vorzuführen, wie man sich unter einer solchen Einmischung fühlt und den Weltmacht-Status der USA zu beschädigen, und zugleich den eigenen Status zu demonstrieren.

Das Trump-Kapitel enthält wenig Neues. Die Autoren sehen in der „Trump-Revolution“ allerdings weit mehr als einen Politikwechsel, sondern das Moment „einer nur schwer wieder umkehrbaren Transformation dessen, wie Amerika sich selbst und seine historische Rolle definiert“. „America First“ heißt, sich um das Wohlergehen anderer Länder nicht zu scheren und sie im internationalen Handel zu übervorteilen. Für Liberale sei „das Eingeständnis amerikanischer Fehler“ Vorspiel für Verbesserungen, für Trump das Bekenntnis, dass die Amerikaner „genauso amoralisch sind wie die Russen, Saudis und andere“, verbliebene Hemmungen könnten endgültig abgelegt werden. Dass hier eine recht euphemistische Sicht auf die USA der vergangenen 120 Jahre präsentiert wird, soll nicht weiter diskutiert werden. Trump bringt die Sache zur Kenntlichkeit. Zutreffend aber scheint: „Das Zeitalter der liberalen Nachahmung ist vorbei.“

Fazit: Der Aufstieg Chinas markiert „das Ende des Nachahmungszeitalters“. Die Chinesen zählten „zu den gnadenlosesten und fähigsten Nachahmern des Westens, wenn es um Technologie, Mode, Architektur und so weiter geht, aber sie haben die Nachahmung der liberalen Demokratie westlicher Prägung […] explizit verworfen. Sie entleihen maßlos, weigern sich aber, sich zu bekehren.“ Und sie haben die Demütigung durch die westlichen Mächte im 19. Jahrhundert nicht vergessen. Zu einer neuerlichen „globalen ideologischen Konfrontation zwischen zwei Großmächten“ werde es jedoch nicht kommen. Auch die Vorstellung von einem „neuen ökonomischen Kalten Krieg“ führt in die Irre. Der Konflikt kann durchaus zugespitzt sein. „Aber er wird nicht ideologisch sein, sondern als eine erbitterte Auseinandersetzung um Handelsfragen, Investitionen, Währungen und Technologien sowie internationales Prestige und Einfluss geführt werden.“

Die Autoren hoffen trotz allem auf eine „liberale Genesung“. Ein „geläuterter Liberalismus, wenn er sich von seinem unrealistischen und selbstzerstörerischen Streben nach weltumspannender Hegemonie erholt hat“, sei noch immer die politische Idee, „die dem 21. Jahrhundert am ehesten entspricht“. Dass sie hier klammheimlich den Systemwechsel in China mitdenken, den sie zuvor ausgeschlossen hatten, liegt nahe. Realitätsbezogener klingt der Wunsch, „dass amerikanische und europäische Führungspersönlichkeiten auftauchen, die in der Lage sind, den Niedergang des Westens vernünftig über die Bühne zu bringen“. Das wäre doch etwas!

Ivan Krastev, Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung, Ullstein Buchverlage, Berlin 2019, 368 Seiten, 26,00 Euro.