23. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2020

Erlesenes – Generation Kaiserzeit, Reichs Faschismus-Buch und Leopold Mozart

von Wolfgang Brauer

Autobiographisches boomt derzeit mal wieder. Aber dieses Buch ist etwas Besonderes. Rita Preuß und Marion Schütt lassen in „100 Jahre in Berlin“ Menschen zu Wort kommen, die drei Dinge miteinander verbinden: Sie gehören nicht zur Gruppe der VIPs, deren mehr oder weniger banales Geschwätz die Regale der Buchhandlungen füllt. Alle haben wenn nicht ihr ganzes so doch den größten Teil ihres Lebens in Berlin zugebracht. Und alle waren über einhundert Jahre alt, als sie ihre Geschichten erzählten. Es ist die „Generation Kaiserzeit“, die aus der Perspektive der „kleinen Leute“ Zeugnis über ihr Leben – nicht zufällig assoziiert man die Wortgruppe mit „Überleben“ – in fünf deutschen politischen Systemen ablegt. „Niemand hat mehr Lebenserfahrung als sie“, schreiben die Herausgeberinnen im Nachwort. Sie haben recht. Da sind die Alltagserfahrungen in guten – die waren eher selten – wie in schlimmen Zeiten. Da sind die Familiengeschichten, die Geschichten über das Ringen um das kleine Glück. Da sind die Geschichten von Frauen, die um ihre Selbstverwirklichung kämpfen. Da sind die Geschichten der Männer, die in den Malstrom des Zweiten Weltkrieges gerieten. Da sind die Geschichten vom Leben in einer Stadt, die nach dem Giftkessel des Nationalsozialismus und den verheerenden Bombennächten in den Strudel des Kalten Krieges geriet. Da sind Geschichten vom Lieben und Lachen, vom Weinen und von der Trauer, von Ängsten und dem großen Vertrauen auf die Kraft des Lebens. Rita Preuß und Marion Schütt lassen elf Frauen und vier Männer zu Wort kommen. Alle mit ganz unterschiedlichen Lebensläufen, sehr verschiedenen beruflichen und auch politischen Verortungen. Aber alle 15 lassen uns tief in ihr Innerstes blicken. Das berührt das eigene Herz und macht einen selbst ganz, ganz stille. Innehalten ist nach dieser Lektüre angesagt. Ich bin dankbar für dieses Buch. Mehr davon!

Rita Preuß / Marion Schütt: 100 Jahre in Berlin. Generation Kaiserzeit erzählt. Mit einem Vorwort von Sybill Klotz, verlag für berlin-brandenburg, Berlin 2020, 272 Seiten, 25,00 Euro.

*

Beim Lesen dieser von bemerkenswerter Offenheit gekennzeichneten Lebensberichte werden durchaus Antworten deutlich, weshalb so viele Deutsche seinerzeit den Nazis nicht nur nachliefen, sondern auch selbst zu solchen wurden. Oder bewusst auf Abstand zu ihnen gingen – bis hin zum Weg in Widerstandshandlungen. Das waren aber die wenigsten. Darüber, dass hier auch komplexe psychosoziale Mechanismen wirken, schreibt bereits im Jahre 1933 der Psychoanalytiker Wilhelm Reich. Sein differenzierter Ansatz befindet sich in direktem Gegensatz zu den holzschnittartigen Denkmustern der stalinhörigen KPD, zugleich wird mit seinem Buch „Massenpsychologie des Faschismus“ der Graben zu Sigmund Freud und seiner Anhängerschaft überdeutlich: „Freud und die Mehrheit seiner Schüler lehnen die soziologischen Konsequenzen der Psychoanalyse ab und bemühen sich sehr, den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu überschreiten.“ So bringt Reich selbst im Vorwort der Erstausgabe diesen Zwiespalt auf den Punkt.

Andreas Peglau bemüht sich seit vielen Jahren intensiv um das geistige Erbe von Wilhelm Reich und legt jetzt erstmals seit 1933 den Originaltext vor. Dieser weicht erheblich von der 1946er Ausgabe ab, in die Wilhelm Reich seine in der Zeit des Exils und der offenen Abkehr vom stalinistischen System gewonnenen neuen Positionen einfließen ließ. Peglau argumentiert, dass viele dieser Veränderungen nicht geeignet seien, „Kapitalismus, Weimarer Republik und nationalsozialistische Bewegung mit derselben Exaktheit abzubilden, wie es in der 1933er Ausgabe der Fall war“. Spätestens mit dem Aufkommen einer offensichtlich massenwirksamen rechtspopulistischen Partei mit starker Affinität zu extremistischen und faschistischen Bewegungen wurde der Reichsche Erklärungsansatz wieder aktuell. Er vermag es, Einblicke in die Urgründe dieses für Viele immer noch Unfassbaren zu geben. Das nach der Lektüre der „Massenpsychologie“ gezogene Fazit stimmt nicht unbedingt fröhlich: Erstens sind die neuen nazistischen Bewegungen keine Eintagsfliegen, und sie repräsentieren auch keine vernachlässigbaren Minderheiten. Zweitens scheinen die bislang gewählten politischen Mittel ihrer Bekämpfung einigermaßen hilf- und erfolglos zu sein. Auch wenn sie mit Getöse daherkommen. Es ist eine medizinische Binsenweisheit, dass vor jeder Therapie eine gründliche Anamnese zu erfolgen hat. Für die Politik gilt das nicht minder. Noch wird das sträflich vernachlässigt. Andreas Peglaus Reich-Edition gibt wertvolle Anregungen, diesen misslichen Zustand zu überwinden.

Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933. Herausgegeben, redigiert und mit einem Anhang versehen von Andreas Peglau, Psychosozial-Verlag, Gießen 2020, 280 Seiten, 32,90 Euro.

*

Leopold Mozart (1719–1787) erscheint heutigen Musikinteressierten zweigesichtig: Als Komponist eigentlich nur noch Kindern zumutbarer braver Stücke mit hübschen Klangeffekten, wie der „Musikalischen Schlittenfahrt“ oder der „Kindersinfonie“ in G-Dur, und als unerbittlich strenger Vater, der seine beiden Wunderkinder auf Konzertreisen quer durch Europa hetzt und sich schließlich doch vom Wolferl abwendet – weil der ins Ausland nach Wien gegangen ist und mit einem liederlichen Frauenzimmer namens Constanze zusammenhaust.

Beides wird Leopold Mozart nicht gerecht. Und merkwürdigerweise gibt es bis zum heutigen Tag keine umfassende Biografie dieses tüchtigen Musikers und durchaus interessanten Komponisten, der sich mit augsburgisch geprägtem demokratischen Bürgersinn schlussendlich doch dem Salzburger Fürsterzbischof Colloredo unterwarf. Dieter Riesenberger schließt jetzt diese Lücke mit einem auf gründlicher Quellenauswertung basierenden Buch. Sein Fazit: „Leopold M. war mit Talenten reich und vielseitig ausgestattet. Er besaß die Gabe, scharf zu beobachten und analytisch zu denken sowie brillant zu formulieren. Er war ein geachteter Komponist, der in der Übergangszeit zwischen Spätbarock und Vorklassik zu Hause war.“ Auch Riesenberger vertritt wie fast alle anderen Musikhistoriker, die sich mit dem armen Leopold – der verdiente übrigens ganz gut, Riesenberger belegt das – befassten, die These, dass „sein größtes Verdienst“ letztendlich die konsequent ausgeübte Rolle des Vaters eines Genies war. Ich finde, Wolfgang Mozarts Jugendfreund Dominicus Hagenauer – dessen Familie gehörte das Haus in der Salzburger Getreidegasse – wird ihm mit seinem Tagebucheintrag anlässlich des Todes von Leopold Mozart gerechter: „Der heute verstorbene Vater war ein Mann von vielem Witz und Klugheit, und würde auch ausser der Musick dem Staat gute Dienste zu leisten vermögend gewesen seyn.“ Und genau das belegt Riesenbergers Buch nachdrücklich. Lesenswert!

Dieter Riesenberger: Leopold Mozart (1719–1787). Unter Mitwirkung von Gisela Riesenberger, Donat Verlag, Bremen 2019, 362 Seiten, 24,80 Euro.