23. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2020

Der sachliche Blick

von Peter Arlt

Als Begrüßungsbild gedacht, empfängt den Besucher in der Rathaushalle Frankfurt (Oder) das „Selbstporträt mit Arbeiter“ (1983) von Norbert Wagenbrett oder, wegen der souveränen Dominanz des Modells, ein Arbeiterporträt mit Maler, der auf der Palette die Farbe mischt. Ein Doppelporträt, wo der eine den anderen mit prüfendem Blick in Augenschein nimmt. Oder mit kritischem Blick kontrolliert der Maler das von ihm geschaffene Bild des jungen Arbeiters und nimmt wahr, wie der ihn wohl einschätzt. „Um die Leute ganz unmittelbar zu erleben“, dauerten die Sitzungen Wagenbretts, wie er sagt, bis zu zwölf Stunden. Zwei von den Leuten des ganzen Landes, zu denen der Dichter Volker Braun bekennt: „Und mitten / Unter ihnen gehe ich, wie sie“. Vom Ich zum Wir, einem landesweiten Kollektiv, das den Sozialismus in der DDR aufbauen wollte. Zwischen Künstlern und Arbeitern bestand wechselseitige Anerkennung. Jeder zwölfte bewies ein starkes Interesse an der Kunst, wollte unbedingt die IX. und X. Kunstausstellung der DDR sehen. So stellte Bernd Lindner die „Herausbildung eines eigenständigen Kunstpublikums in der DDR“ fest. Das interessierte sich sehr für neuere Tendenzen und Sichtweisen und war dennoch mehrheitlich dem traditionellen Realismus verpflichtet, der verstanden wird. Verbunden fühlte sich Wagenbrett, der seine Ausbildung in Leipzig erhielt und Meisterschüler Willi Sittes war, den Künstlern, die sich dem Volk besonders nahe fühlten, den Malern der Neuen Sachlichkeit und des Verismus. „Seit Jahrhunderten ist der Realismus ein Mittel der Selbstverständigung des Menschen“, betont Wagenbrett seine Haltung und setzt fort: „Solange Künstler zu möglichst realen Mitteilungen über ihre Welt und die Menschen herausgefordert werden, solange wird es Realismus geben.“

Solche Herausforderung gibt es vom bürgerlichen Mitte-Staat nicht. Künstler aus der DDR wie Norbert Wagenbrett, Günter Thiele, Willi Sitte, Christa Sammler, Uwe Pfeifer, Ronald Paris, Wolfgang Peuker, Harald Metzkes, Konrad Knebel sahen oder sehen sich indes weiter dem Realismus verpflichtet. Sie stellten beispielsweise bis 1996 im Künstlersonderbund aus. Jetzt werden sie vom Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst (BLMK) in Frankfurt (Oder) präsentiert.

Während die genannten und andere Künstler am Realismus festhielten, bog der künstlerische Hauptstrom ab dem Phaseneinschnitt 1983 in die expressionistische Tendenz ein und bewegte sich vom semantisch ausfasernden Wir zum Ich. Diese Kunstphase hat Frankfurt bereits 2015 als „DDR expressiv – die 80er Jahre“ ausgestellt, so dass jetzt das „konzeptionelle Pendant“ gezeigt wird. Als Kurator hat wiederum Armin Hauer gewirkt. Er grenzt sich deutlich von der Konzeption ab, für die Kunst in „soziokulturellen Fallstudien (…) ein Beweisstück ist“. Es geht ihm wie der Direktorin Ulrike Kremeier um die oft nicht beachtete künstlerische Form. Das heißt: Periodisierungsfragen sind auf Veränderungen in der künstlerischen Struktur zu beziehen.

Aus der wohl größten Sammlung von Kunst aus der DDR (42.000 Werke im BLMK) sind in würdiger Weise 80 Gemälde und Plastiken von 46 Künstlerinnen und Künstlern ausgestellt, die mit aufgeschlossenem und unabhängigem Blick sachliche Bilder gestalteten, die natürlich nicht objektiv sein können, aber dem Betrachter mehr Freiheiten bei der Einschätzung lassen. Sie stammen überwiegend aus den 60er und 70er Jahren. Freilich werden auch Kunstwerke aus der Zeit davor einbezogen, aus der Phase der unmittelbar realistischen Kunst, die vorwiegend auf eine deskriptive und vorbildsetzende Gestaltung des neuen Gegenstands orientiert war. Curt Querner malte sich 1948 mit verlässlich kritischem Blick und in Arbeitermontur, die ihn attribuiert. Dazu passt in der Ausstellung eine Fabrikgegend von Rudolf Nehmer, die mit vier Schornsteinen und Werkhallen im Stillleben mit Kalla vermittelt wird.

In den folgenden Abschnitten wurde aus dem „staatlich oktroyierten Kunstdogma“ (Lothar Lang) ausgebrochen und soziale Probleme wurden kritisch reflektiert. Weil diese Kunstwerke Lebensfragen voller konfliktgeladener gesellschaftlicher Widersprüche aufwarfen, gelang es, ein Massenpublikum ästhetisch-geistig zu mobilisieren. In den 70er Jahren gab es nicht nur in Leipzig und in der DDR, sondern ebenso in der Sowjetunion und weltweit einen ähnlich gerichteten Realismus, gleichfalls in der BRD. Mit Fotorealismus, Hyperrealismus oder Super-Realismus im Westen, vor allem in den USA, gab es eine Wechselwirkung, eine herausfordernde Ästhetik des Widerstands. Im Katalog wird richtigerweise auf analoge Entwicklungen im Osten wie im Westen hingewiesen. So gelingt es, feindliche Gegenüberstellungen zu überwinden.

Ein besonderes Beispiel gibt dafür „Menschen in der Stadt“ (1979) von Henri Deparade. Darin wird das Bild der neuen Brücke, die den Thälmannplatz in Halle überspannt, artistisch mit Schaufenster-Reflexionen und etlichen unterschiedlichen Personen verbunden, die eine Maske heruntergenommen haben, ihr Tuch festzurren, einen Baum einpflanzen wollen … und auch der Künstler selbst spiegelt sich im Glas. Von einer „Anlehnung an die Stadtbilder von Richard Estes“ spricht Deparade in einer Mail an Kurator Armin Hauer, der seine gründlichen Einzelinterpretationen im Katalog mit Künstlerzitaten authentisch aufwertet. Er weist darauf hin, dass viele Bilder der sachlichen Periode „bewusst für die große Öffentlichkeit, nicht nur für die Kunstkenner gedacht“ waren – etwa der „Straßenbau“ von Bernd Hertel, der 1976 mit der unfertigen, wie liegengeblieben wirkenden Straße ein Symbolbild der DDR schuf: Das Ende und Ausbruchsversuche an den Leitplanken stehen einem vor Augen.

Oder die Stadtmotive Uwe Pfeifers, der den „Durchgang in Halle-Neustadt“ (1971) im romantisch-konstruktiven Bild zwar schön, doch steril erfasst und sich über die Gleichförmigkeit der Bewohner mit Kaktustöpfen in der Fensterecke lustig macht.

Neben dem späteren finsteren Fensterausblick von Rainer Mersiowsky führt der daneben gezeigte Fensterblick Wolfgang Mattheuers (1966) zu einer von der Taube auf der Antenne angezeigten empfangenen Botschaft des Friedens.

An einer langen Wand hängen Bildnisse abschätzender, selbstbewusster, kluger Frauen von Monika Geilsdorf, Manfred Kastner – dessen Blau weit in den Raum dringt – oder Curt Querner und die Mädchenporträts von Heinz Zander und Ronald Paris, dazu Clemens Gröszers „Akt Gerrit S.“ Dicht an dicht, trotzdem locker gehängt, werden an hoher Wand magisch-realistische Stillleben im Gegensatz von Objektnähe und Farben präsentiert: die „Verpackten Flaschen“ und die an Morandi erinnernden „Zwei Töpfe“ von Günther Friedrich, die veristischen Früchte mit Ananas von Ulrich Hachulla, die Muscheln mit Rotlichtlampe von Volker Stelzmann, die „Karusselltiere II“ (1948) von Karl Völker oder die arabeskenhafte Formzusammenziehung bei Wolfgang Mattheuers Blumen am Fenster – Beispiele der Vielfalt von Kunst und ihrer großen Qualität.

In der gotischen Halle geben großartige figurale Plastiken von Heinrich Drake, Wieland Förster, Gerhard Lichtenfeld, Anna Franziska Schwarzbach, Rolf Biebl, Friedrich B. Henkel und die polychrome Keramik „Lebensgenuss“ (1970) von Christa Sammler der Schau Akzente.

Zwischen den weißen Bögen funkeln Arno Rinks „Kleine Versuchung“ und Doris Zieglers ungewöhnliches Doppelporträt „Mutter und Tochter“: Die jüngere erholt sich in der Badewanne, die freundliche Mutter sitzt daneben. Das melancholische Grau des Innenraumes erweitert sich auf der dunklen Leipziger Straße, auf dem ein Rundtisch drei Frauen (mit Zieglers Selbstporträt) und sieben Kinder mit wunderbar offenen Gesichtern zusammenbringt. In der Menschlichkeit, die keine Rassenüberlegung kennt, gibt Susanne Kandt-Horns Mutter-Kind-Bild der Mildtätigkeit eine allegorische Fassung. Als Inbegriff des sachlichen Blicks malte Volker Stelzmann „Forschung“, ein bedeutendes Triptychon, mit dem er die Arbeit der Gesellschaft zur Abwehr von Krankheit und Tod würdigt.

Erst unter Berücksichtigung aller Stilrichtungen und damit der Zusammenfassung aller empirisch subjektiven Wahrhaftigkeiten, wie sie das BLMK nach und nach in Ausstellungen in Frankfurt und Cottbus („Kollektive Signaturen“, Michael Morgner) entfaltet, kann das komplexe Phänomen der Kunst aus der DDR eine kunsthistorische Wahrheit finden.

Der sachliche Blick in der DDR. Malerei und Plastik aus der Sammlung des BLMK – bis 3. Mai 2020, Rathaushalle, Marktplatz 1, 15230 Frankfurt (Oder). Di–So 11–17 Uhr; 10. u. 12.4. u. 1.5. 11–17 Uhr, 13.4. geschlossen; Katalog (108 Seiten) 15,00 Euro.