An die Opfer des Nationalsozialismus, „deren Leiden ohne Vergleich ist“, denkt er mit besonderer Achtung, denn er hat als Kind und Jugendlicher erlebt, was faschistische Diktatur ist. Das diesen Opfern gewidmete „Große Martyrium“ (1977 bis 1979), das wegen des Fehlens jedes politisch-sieghaften Pathos nicht in die Konzeption der damals Kulturverantwortlichen passte, erhielt erst 1994 seinen Platz an der Konzerthalle in Frankfurt/Oder: Vier kopfunter hängende Körper verschmelzen zu einem Leib, zu einem Klumpen Fleisch. Der voll Schmerz in sich versunkene „Große Trauernde Mann. Den Opfern des 13. Februar 1945 in Dresden gewidmet“ – Förster hat einen Tag nach seinem 15. Geburtstag dieses Inferno, als das barocke Dresden in Schutt und Asche fiel, traumatisiert miterlebt –, ist seit 1984 auf dem Georg-Treu-Platz an der Brühlschen Terrasse aufgestellt, der zu einem Ort der Trauer, der Besinnung und Ehrung der Toten geworden ist. Nackt, mit angezogenen Beinen, hockt der Mann blockhaft zusammengekrümmt auf einem schmalen Sockel, die Hände vor das Gesicht geschlagen, als könne er den Anblick dessen nicht ertragen, was da geschehen ist.
Im November 1995 wurden im Nordosthof der Mahn- und Gedenkstätte Dresden das Denkmal „Namenlos – Ohne Gesicht, den zu Unrecht Verfolgten nach 1945“ und „Das Opfer“ in der Potsdamer Gedenkstätte Lindenstraße 54 eingeweiht. „Namenlos – ohne Gesicht“, der Titel entstammt einem Gedicht von Anna Achmatowa, ist, eine Traube von Menschenleibern, ein Denkmal für die nach 1945 zu Unrecht Verurteilten und zu Tode Gebrachten. „Das Opfer“: der sich aufbäumende, geschundene Körper eines Gepeinigten, in Verzweiflung auf das Ich zurückweisend. Indem Förster den Bewegungsspielraum seines Torsos so weit wie möglich beschneidet, ihn zum wahrhaften Stand-Bild einengt, die Arme, den Rumpf preisgibt und diesen mit den Beinen zu einer durchlaufenden Senkrechten vereinigt, revoltiert bei ihm die Gebärde gegen die beharrenden, lotrechten Formabsprachen, gegen die Mitte des Leibes, gegen das sicher Umgrenzte, gegen die maßvoll abgestumpfte Form. Der Schnitt, der durch den Körper hindurchgeht, der Widerspruch, dem keine Versöhnung beschieden ist – er ist auch in uns. Förster hat den Stachel nicht aus unserem Fleisch gezogen.
2009 wurde in Dresden-Laubegast – dort, wo Wieland Förster geboren wurde und aufgewachsen war –, „Die Elbe“ (2002, Bronze) eingeweiht, eine wie auf einer Welle schwebende, dahin gleitende weibliche Figur. Der Körper, am Kopf, an der Schulter und an den Knien torsiert, richtet sich durch eine leichte Linksdrehung aus der Horizontalen in die Diagonale auf, was sowohl der Wellenbewegung entspricht als auch ihr entgegenläuft. Diese Mensch gewordene Undine bewegt sich kraftvoll, selbstbewusst und den Elementen anpassend wie trotzend – es muss nicht das Wasser, es kann auch die Luft sein, die sich hier zu einem die Gestalt tragenden oder ihr widerstrebenden Medium materialisiert.
Förster hat eine große Zahl Porträtplastiken „von mir nahen und auch fernen“ Dichtern (Johannes Bobrowski, Erich Arendt, Franz Fühmann, Pablo Neruda, Peter Huchel, Uwe Johnson), Musikern, Komponisten (Hanns Eisler, Zoltán Kodály), bildenden Künstlern (Otto Niemeyer-Holstein, Hans Theo Richter, Hans Purrmann), Dirigenten (Otmar Suitner), Regisseuren (Walter Felsenstein), Schauspielern und Wissenschaftlern (Walter Jens) geschaffen. Kein „Machtmensch“ ist darunter, Willy Brandt zog ihn eher durch „seine Sensibilität als Mensch“ an. Zum 100. Geburtstag Heinrich Bölls hat Förster hier im Blättchen berichtet, wie er den Schriftsteller bei einem Interview im West-Fernsehen „wie besessen zeichnete“ und sein „Erkennungsnetz“ über dessen Gesicht warf. Tage danach begann er eine Stele, „in der ich ihn meinem Blick unterwarf und ihm zugleich huldigte“. Er hat sie aber erst 1988 vollendet, sie steht vor der Heinrich-Böll-Bibliothek in der Greifswalder Straße, Prenzlauer Berg. Auch das Bernhard-Minetti-Porträt von 1991/92 wurde durch „langjährige Beschäftigung mit Filmen, Zeichnungen vor dem Fernsehgerät vom agierenden Schauspieler aus früheren Jahren gestützt, so dass die Sitzungen 1991 lediglich der Bestätigung, der Verfestigung des herangewachsenen inneren Bildes dienten“. „Die Menschen müssen mich berührt haben, in welcher Form auch immer, sie müssen eine Rolle in mir gespielt haben.“ Jeder der Porträtierten hat ein Geheimnis, sein Geheimnis. „Ohne Geheimnis, das sich in der Arbeit erst langsam enthüllt, keine Kunst“, sagt Förster.
In Paar-Kompositionen – von dem 1969 modellierten Liebesakt – sie Horizontale, er Diagonale – über Hero und Leander bis zur vierten Penthesilea-Fassung wird jener Konflikt, jeder unerlöste Widerspruch von Leben und Tod, von Aggression und Erleiden, von Sinken und Trotzen auf zwei Figuren übertragen. Mit der dritten und vierten Penthesilea-Fassung setzte er eingepfählte, aufregende Zeichen, Ruf-Zeichen, Mann und Weib in der Gleichwertigkeit, als Symbol schöpferischer Potenz schlechthin. Der Torso als Fragment trägt prozessualen Charakter, er bleibt als Form offen und sperrt sich nicht gegen Verbindungen, Verschmelzungen, Verknotungen, Überlagerungen. Der Körper wird zur flammenden, zuckenden, auffahrenden Form, zur lodernden Landschaft, und diese wiederum zu organischem Leben, mit allen Zeugungsmerkmalen erweckt.
Man muss erst durch die Höllen der Genauigkeit und Festigkeit hindurchgegangen sein, sagte der heute Neunzigjährige vor 20 Jahren, um von tragischer Gespanntheit zu einer fast arkadischen Gelassenheit gelangen zu können. Die zeichenhaft aufsteigende, überlängte „Nike“ von 1998 ist wohl durchs Feuer gegangen, das Flügelpaar verkürzt, verbrannt, der Körper mit Narben bedeckt, und doch hat die symbolische Gestalt eine neue Freiheit gewonnen, einen atmenden Rhythmus und eine tänzerische Beschwingtheit, die aus der „Altersfreiheit“ des Künstlers erwachsen ist. „Nike ’89, Sieg mit gebrochenen Flügeln“ (1997/98) steht vor dem Landtag in Dresden, während die sich auf einer Granitsäule erhebende „Nike ’89“ (1999, vergoldete Bronze) zum 10. Jahrestag des Falls der Mauer an der Glienicker Brücke in Potsdam eingeweiht wurde. Jener Hoffnung auf Überleben, auf Überdauern steht als letzte große bildhauerische Arbeit Försters der durch die Überdrehung des Leibes an den Füßen wie aufgehängte, gehäutete „Marsyas – Jahrhundertbilanz“ (1999) – er steht vor dem Museum in Bautzen – gegenüber. Mit dieser Polarität wurden ein Jahrhundert und ein Lebenswerk beschlossen – und sie hat uns weiter ins neue Säkulum begleitet als noch immer offene Frage nach der Würde und Selbstbestimmung des Menschen.
2007 musste Förster krankheitsbedingt seine Tätigkeit als Bildhauer beenden, er widmete sich nun verstärkt seiner schriftstellerischen Arbeit. 1982/83 war bereits der Briefroman „Der Andere – Briefe an Alena“ entstanden, die Geschichte einer gescheiterten ostdeutschen Existenz, die Förster damals aus guten, politischen Gründen nicht zum Druck einreichte. Er erschien erst 2009. Seine Reisetagebücher sind 2000 unter dem Titel „Die Phantasie ist die Wirklichkeit“ geschlossen publiziert worden, neben den bereits bekannten zu Tunesien, Rügen, der Sächsischen Schweiz und dem tschechischen Kuks auch die bisher nicht veröffentlichten zu Bulgarien und Paris. Auszüge aus Försters Tagebüchern, die er seit 1953 kontinuierlich geführt hat, kamen aus dem Zeitraum von 1958 bis 1974 vor zwei Jahren heraus.
2012 erschien der „Seerosenteich. Autobiographie einer Jugend in Dresden 1930-1946“ und 2017 veröffentlichte Förster „Tamaschito. Roman einer Gefangenschaft“, in dem er die sein ganzes Leben belastende Geschichte seiner Jugend erzählt, als der Sechzehnjährige 1946 durch die Denunziation eines kommunistischen Landrats wegen angeblichen Waffenbesitzes dem sowjetischen NKWD übergeben, nach dreimonatigen nächtlichen Verhören von einem sowjetischen Militär-Tribunal zu siebeneinhalb Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, jedoch wegen seiner Auszehrung in das sowjetische Speziallager Nr. 4 Bautzen überstellt wurde. Dort erkrankte er unter anderem an Tuberkulose und wurde 1950 ohne Papiere und offizielle Begnadigung entlassen. So schrecklich diese Zeit gewesen ist, über die er in der DDR zu schweigen gezwungen war, hat sie ihm doch erst die Motivation gegeben, Zeugnis für den Menschen abzulegen. Förster berichtet in dem Roman von einem jungen Mitgefangenen, einem „Häufchen hustenden Verfalls, einem Knochenmann, dem Rest eines Menschen“, der in sein blutbespienes Taschentuch das „Wortmonstrum“ TAMASCHITO gestickt hat. Denn zu seinem Geburtstag hatte ihm immer seine Tante Martha eine köstliche Torte gebracht, die er „TAnte MArthas SCHIcht Torte, TAMASCHITO“ nannte. Als Tamaschito, so wird der 16-jährige Ich-Erzähler Thomas Gerber ihn künftig nennen, „seine Lunge erbrach, schwammige Blutfetzen, Lungenreste, Schaum, eine Lache aus Blut“, und tot vor Thoms Füßen lag, stand fest: „Für ihn würde er sich erinnern, ein Leben lang schreiben“.
„Tamaschito“ versucht eine großangelegte Synthese von politischer Zeitdiagnose und sinnlich dichterischer Wirklichkeitsdarstellung. Es ist das Aufscheinen von Grund und Hintergrund, das diese erzählte Vergangenheitsgeschichte für uns heute so lesbar und gegenwärtig macht. Das Unmenschliche als Einseitigkeit, als ungeheuerliche Konzentration auf eine Sache, auf einen Gedanken, auf einen Sinn – irgendwie zu überleben. Hilflos ausgeliefert zu sein und dennoch zu bestehen – das ist das innere Thema des Romans. Im Aufdecken des Unmenschlichen als Einseitigkeit wird die Philosophie des Romans zur Philosophie des Lebens. Dabei bedient er sich einer jonglierenden Dialogstruktur zwischen dem impliziten, fiktiven Ich-Erzähler und seinen Leidensgefährten unterschiedlicher Couleur wie Wächtern, Richtern und über sein Leben Entscheidenden. Der Erzähler erzählt, um das zu verstehen, zu begreifen, abzuarbeiten, was ihn da jahrzehntelang belastet hat. Erzählend sucht er zu verstehen und verstehend zu erzählen.
Prof. Dr. h.c. Wieland Förster kann in der Tat heute auf ein vielfältig wirksames Jahrhundertwerk zurückblicken.
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