Vor 150 Jahren, am 2. Februar 1870, wurde Anna Mathilde Kolb geboren. In ihrem Münchner Elternhaus herrschte ein ganz besonderes, ihr Leben prägendes Familienklima. Tagtäglich konnte sie in den Jahren nach dem Deutsch-Französischen Krieg den von allen politischen Exzessen unberührten Einklang zwischen ihrer französischen Mutter und ihrem deutschen Vater erleben.
Mit 18 Jahren veröffentlichte Annette Kolb, wie sie sich zukünftig nur noch nennen sollte, ihren ersten Artikel in einer Münchner Tageszeitung. Doch niemand interessierte sich in der Folgezeit für ihre Texte. Kolb ließ sich nicht beirren. 1899 entschloss sie sich, eine Auswahl des bis dato Entstandenen unter dem Titel Kurze Aufsätze im Eigenverlag herauszugeben. 1906 erschien ihr Buch L’âme aux deux patries (Die Seele zweier Länder). Die darin versammelten Feuilletonartikel hatten nur ein Thema: die deutsch-französische Verständigung.
Cornelia Michél und Albert M. Debrunner ist es zu danken, das jetzt eine erste größere, mit zahlreichen biographischen Zwischentexten und Kommentaren versehene Auswahl von Kolbs Briefen aus sechs Jahrzehnten vorliegt. Die Situation der frühen Jahre zusammenfassend schreiben sie: „Enttäuscht musste sie feststellen, dass nur wenige ihre pazifistischen Ansichten teilten oder zumindest nachvollziehen konnten. Umso wichtiger wurden für sie die Menschen, mit denen sie sich geistig und seelisch verbunden wusste. Diese wenigen unterstützten sie bei ihrer Arbeit, ihrem Bemühen, die Katastrophe abwenden zu helfen, doch sie standen ebenso auf verlorenem Posten wie Annette Kolb.“
Der endgültige Durchbruch als Schriftstellerin gelang Annette Kolb mit ihrem ersten Roman. Das Exemplar wurde 1913 als beste Erstveröffentlichung des Jahres mit dem von dem Mäzen Erik-Ernst Schwabach gestifteten Fontane-Preis ausgezeichnet. Noch Jahrzehnte später sollte sich ihr langjähriger Bekannter, der Schweizer Diplomat und Historiker Carl Jacob Burckhardt, an diese psychologisch fein ausgearbeitete Liebesgeschichte als „ein Buch des Abschieds vom alten Europa“ erinnern.
Zwei Jahre später, mitten im Ersten Weltkrieg, hielt Kolb in Dresden einen Vortrag zum Thema „Die Internationale Rundschau und der Krieg“. Das von ihr vorgestellte Projekt einer neutralen, pazifistisch ausgerichteten Zeitschrift, die Beiträge von Autoren aus aller Herren Länder vereinen sollte, erregte die Gemüter der Zuhörer. Noch dazu, weil die deutsche Presse wegen ihres unerträglichen Chauvinismus massiv kritisiert wurde. Die Veranstaltung endete in einem Tumult, Kolb musste den Saal fluchtartig verlassen. Von diesem Zeitpunkt an galt sie in Deutschland als persona non grata.
Durch die tätige Hilfe von Harry Graf Kessler und Walter Rathenau gelang es Annette Kolb im Februar 1917, Deutschland zu verlassen. Schon im September 1914 hatte sie ihrem Schriftstellerkollegen Alfred Walter Heymel gestanden: „Tausendmal lieber wäre ich tot als diesen vermeidlichen Krieg erleben zu müssen. Es ist die grösste Strafe meines Lebens. Ich bin deutsch“, hieß es weiter, „aber mit einem zerrissenen Herzen“. Zuflucht fand sie in der Schweiz, wo sie Romain Rolland kennenlernte. Er versicherte ihr, „zu der kleinen Zahl derer [zu gehören], die ihren Schmerz verstehen und teilen können“. Auch Hermann Hesse gehörte zu diesen Wenigen. Über ihn urteilte sie: „Keine Spur von ,Literatendummheit‘ bei ihm, im Gegenteil eine so schöne Intelligenz, viel Unzufriedenheit …“ Kolb machte die Bekanntschaft der Wiener Schriftstellerin und Salonière Berta Zuckerkandl und da war ihr engster Freund René Schickele, Deutschfranzose wie sie.
Im Jahre 1923 wurden Schickele und Kolb Nachbarn. Für die nächsten zehn Jahre fand sie ihr Zuhause in Badenweiler, einem kleinen Städtchen im Südschwarzwald. „Das Entscheidende an diesem Ort“, so resümierte sie Anfang der dreißiger Jahre, „ist seine geographische Lage sowie sein Klima. Eine halbe Stunde von der Schweiz, näher noch an Frankreich, mit einem Himmel, der an Italien erinnert, liegt er ein wenig wie die Insel Nirgendwo im Schoße des Raumes“. Sechs Bücher entstanden in diesem Jahrzehnt, zudem schrieb Kolb Artikel für die angesehensten literarischen Zeitschriften, darunter Die Weltbühne und Die Neue Rundschau.
Annette Kolb war eine aufmerksame Beobachterin der politischen Entwicklungen. In einem Brief an Max Rychner, von 1923 bis 1931 Chefredakteur der Neuen Schweizer Rundschau, hieß es im September 1931: „Aber wo möchte man heute gern leben? Manchmal läuft doch der ganze heutige Zustand auf ein nicht gerne sterben hinaus. Aber gern leben?“ – Am 21. Februar 1933 fuhr Kolb mit dem Taxi von Badenweiler in das nicht einmal 40 Kilometer entfernte Basel. Ein paar Tage zuvor hatte sie an René Schickele geschrieben: „Ich sehe nirgends eine Hoffnung. […] Die Stäbe der Falle werden zementirt, keine Masche in dem Netz unverstärkt gelassen. Was Verzweiflung ist, weiss man erst jetzt.“
Als sie 1934 eine Wohnung in Paris bezog, kehrte endlich wieder etwas Ruhe in Kolbs Leben ein. Carl Jacob Burckhardt erklärte sie: „Mein Herz hat sich vor dem 3. Reich verschlossen. Ich empfinde dafür nur Entfremdung und unaussprechlichen Schrecken. […] Meine Sympathie aber hat heute Frankreich. Meine französische Seite hat einfach die Oberhand genommen“ 1936 wurde Annette Kolb französische Staatsbürgerin.
Nach dem Überfall Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht schrieb sie an Thomas Mann: „Wir dürfen diese Welt noch nicht verloren geben obwohl sie es zu dreiviertel schon ist.“ Über die Schweiz emigrierte Kolb mit Unterstützung von Hermann Kesten und anderen Freunden Ende März 1941 in die USA, der letzten Station ihres Exils. Im Herbst 1945 kehrte sie zurück nach Europa. Zunächst verbrachte sie einige Monate bei ihrer Schwester Germaine in Irland, Ende des Jahres reiste sie weiter nach Paris. Sie nahm sich ein Zimmer im Hotel Cayré am Boulevard Raspail, wo sie bis Anfang der sechziger Jahre wohnte. Beflügelt von der nach dem Zweiten Weltkrieg herrschenden Aufbruchstimmung engagierte sich Kolb mit ihren Schriften erneut für die deutsch-französische Verständigung. Doch ihre Kräfte ließen mehr und mehr nach. Hermann Kesten gestand sie: „Für ein paar Aphorismen mag es noch reichen, aber sonst bin ich a.D.“
Ein letzter Ortswechsel führte Annette Kolb 1961 zurück in ihre Geburtsstadt München, wo sie fast hundertjährig am 3. Dezember 1967 verstarb. In dem ihr gewidmeten Nachruf von Carl Jacob Burckhardt hieß es: „Sie hat vieles in richtiger Weise vorausgesehen und vorausgesagt, das Vergangene aber blieb immer Gegenwart für sie. Tiefernst redet sie von Toten, als spräche sie von Lebenden. Das ist ihre Größe: das Aufrufen der verschwundenen Gestalten und ihr Erscheinen, als trenne sie nichts von uns.“
Annette Kolb: „Ich hätte dir noch so viel zu erzählen“ – Briefe an Schriftstellerinnen und Schriftsteller, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2019, 319 Seiten, 24,00 Euro.
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