22. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2019

Lokaltermine in neuen Ländern

von Bernhard Mankwald

Im Blättchen 25/2014 beschrieb ich, wie ich bei einem Aufenthalt in West-Berlin den fälligen Abstecher in die DDR auf das nächste Mal vertagte – das war im Jahr 1988 … Da kam ich also zu spät, wurde dafür aber vom Leben nicht etwa bestraft, sondern sogar belohnt – und zwar mit einer neuen Berufsperspektive.
Diese bot sich ab 1992 in einem Forschungsprojekt, in dem es um psychotherapeutische Interventionen in den „Neuen Bundesländern“ ging. Dabei gewann ich allerdings bald den Eindruck, dass der Bedarf der Einheimischen an Interventionen jeder Art für die nächste Zeit mehr als gedeckt war. In Dortmund arbeitete ich mit einer Sozialwissenschaftlerin, einer Pädagogin und einer Sekretärin zusammen; an Ort und Stelle gab es eine Gruppe ähnlicher Zusammensetzung. Darüber thronte als Projektleitung auf jeder Seite ein Professor.
Scheinbar herrschte also Parität – aber unsere Stellen waren für zwei Jahre bewilligt, die der Kolleginnen aus Leipzig nur für eines, wir hatten volle Stellen, an ihren hatte man ein Drittel oder Viertel abgeknapst, und auch der geltende Tarif honorierte Leistungen, die von Ostdeutschen erbracht wurden, deutlich zurückhaltender als unsere. So waren die tatsächlichen Kräfteverhältnisse hinreichend klargestellt, und an Gelegenheiten, in Fettnäpfe zu treten, fehlte es nicht.
In den zwei Jahren las ich alles, was mir zum Thema in die Hände fiel, fand gastliche Aufnahme in Leipzig und wertete es als planerischen Erfolg, dass unsere Reisegruppe mit öffentlichen Verkehrsmitteln einen Ort namens Zöschen erreichte, zu dem es pro Tag immerhin fünf Zugverbindungen gab. Als Problem erwies sich dabei, dass eine Kollegin das, was die Reichsbahn dort für uns bereitgestellt hatte, nicht als Bahnsteig anerkennen wollte. Sie ließ sich dann aber doch dazu bewegen, die Tür auf ihrer Seite wieder zu öffnen; während die freundliche Zugbegleiterin schon zur Pfeife griff…
Besonders viel Zeit verbrachte ich damals in Halle. Jetzt ergab sich eine Gelegenheit, diese Erinnerungen aufzufrischen. Die entspannte Anreise mit leichtem Gepäck führte über Hannover und Magdeburg; eine Umsteigepause in Bitterfeld ergab die Gelegenheit, einmal ein „Reformationsbrötchen“ zu probieren.
Das erste, was man als Bahnreisender von Halle sieht, sind die langen Wege in die Stadt. Die bekannte verkehrsreiche Passage war inzwischen zur Fußgängerzone mutiert; ein paar Straßenbahnen sind ja keine Gefahr für jemand, der auch nur ein wenig auf seine Umgebung achtet. Der Weg führte zum gebuchten Hotel am Riebeckplatz – in meinem alten Stadtplan ist er noch als Thälmannplatz eingetragen.
Das Hotelzimmer kam mir vor wie eine psychologische Versuchsanordnung: die Tür mit der ausgehändigten Karte öffnen, erkennen, dass die zugleich als Stechkarte diente, ohne die die Beleuchtung nicht funktionierte, diverse Lichtschalter an unerwarteten Stellen finden… Den Safe erkannte ich auf Anhieb als heimtückische Falle: die Kombination war bei jedem Schließen neu einzugeben. Ein Augenblick der Unachtsamkeit hätte also genügt, um den Inhalt bis auf weiteres zu verlieren. Der Klimaanlage dagegen konnte ich nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ zwar eine angenehme Temparatur entlocken; dafür zwang mich ein lautes Gebläse dazu, von den mitgeführten Ohrstöpseln Gebrauch zu machen. Ein Blick in die imposante Innenstadt und ein Essen in sehr angenehmem Ambiente rundeten den Abend ab.
Am frühen Morgen bot der Blick aus dem Fenster den eigenwilligen Anblick einer Fußgängerzone, der man ein Autobahnkreuz übergestülpt hat. Dies erschien mir als perfekte bauliche Metapher für die DDR: Gut ausgebaute Wege, die in alle Richtungen führen – nur nicht zur klassenlosen Gesellschaft. Planerische Lösungen, die von einer höheren Warte aus betrachtet durchaus elegant wirken – während die da unten sie eher als bedrückend empfinden und ihre eigenen Wege gehen.
Die Fahrt mit der Straßenbahn – Linie 7 – hatte ich stets als abenteuerlich empfunden; nunmehr war ich begeistert. Der grau-braune Farbton des Verfalls war bis auf wenige Spuren von den Fassaden verschwunden, und die kurvenreiche Strecke bot alle paar Sekunden neue unerwartete Perspektiven. Durch eine sachliche Betonrinne ging es zunächst an die Peripherie der Innenstadt, dann zeigte sich unerwartet der Markt, dazwischen Türme, Kirchen, Stadthäuser… Für die landschaftlich schöne Passage an der Saale  war etwas mehr Zeit eingeplant; und von der Burg Giebichenstein hatte ich mir sogar den Namen gemerkt.
Vor meinem Termin blieb genug Zeit, weiteren Erinnerungen nachzugehen: das bekannte Institutsgebäude diente nun anderen Zwecken, das Studentenwohnheim, in dem wir bei unserer ersten Reise untergekommen waren, stand leer.
Dann nutzte ich die Gelegenheit, vor einem kleinen, aber sachkundigen Auditorium die denkpsychologischen Experimente zu präsentieren, die ich für meine Diplomarbeit und meine Dissertation mit Hilfe eines Computers aus der Ära vor der Erfindung des Mikrochips durchgeführt hatte. Ich hatte so etwas lange nicht getan und stellte nun erfreut fest, dass es noch geht.
Die 24-Stunden-Karte reichte noch für etliche weitere Fahrten. In Halle-Neustadt erneuerte sich mein Eindruck, dass die Bauweise sich durchaus wohltuend von ähnlichen Komplexen im Westen abhebt. Eine Straßenbahn lockte mit dem Ziel „Frohe Zukunft“. Ich stellte fest, dass es tatsächlich eine Straße dieses Namens gibt; aber die lag zu dem Zeitpunkt noch im Dunkeln. – Mir blieb die landschaftlich wunderschöne Rückfahrt am Harz entlang über Nordhausen.