von Jan Opal, Gniezno
Polens Nationalkonservative werden im Sejm mit insgesamt 460 Abgeordnetenplätzen ihre 235 Sitze behalten, so dass sie die Alleinregierung fortsetzen können. Dafür brauchte die PiS über acht Millionen Stimmen, ein in den letzten 30 Jahren von keiner Gruppierung erreichter Wert. Dennoch macht diese schwindelerregende Zahl nur 43,6 Prozent der abgegebenen Stimmen aus, was wiederum eine Folge der durchschlagenden Mobilisierung ist, die sich in der seit 1989 bei Parlamentswahlen nie erreichten Wahlbeteiligung von 61,7 Prozent zeigt. Die Nationalkonservativen waren am Wahlabend also vor allem die Nutznießer eines Wahlsystems, das bei gleicher Stimmenzahl diejenigen mit zusätzlichen Abgeordnetensitzen belohnt, die geschlossen in einer Liste und nicht getrennt in unterschiedlichen Gruppierungen antreten. Eingeführt hatten dieses den Wählerwillen verfälschende Zählsystem einst allerdings andere, mit dem schönen Argument übrigens, dass es in Polen künftig klare Mehrheiten brauche.
Die in drei getrennten Listen antretende demokratische Opposition, also diejenigen, die an der seit 1997 geltenden Verfassung festhalten und deren strikte Einhaltung fordern, erreichten zusammengezählt fast eine Million mehr Stimmen als die Nationalkonservativen, auch dies eine beeindruckende Zahl. Doch brachte ihnen das nach dem Auszählen insgesamt nur noch 213 Abgeordnetensitze ein. Insofern hat sich eigentlich nichts geändert, wiewohl der Wind sich doch leicht gedreht hat. Der erste, der diese von den Siegern nicht ganz erwartete Situation am Wahlabend in Worte zu kleiden suchte, war Jarosław Kaczyński, der erklärte, die Nationalkonservativen hätten ein sehr viel besseres Ergebnis bekommen müssen. Er hätte auch sagen können, der unbeschreiblich große Einsatz der Regierungspartei sei vom Wahlvolk nicht genügend honoriert worden, denn wenigstens darin waren sich alle Beobachter hinterher einig: Noch nie hatte sich in den letzten Jahrzehnten eine Regierungsmannschaft so ins Zeug legen müssen wie diesmal. Der ob des Wahlergebnisses einigermaßen ratlos wirkende Kaczyński wies indes den Ausweg: Weiter so!
Die Parlamentswahlen sollten den Weg öffnen in Richtung einer Verfassungsmehrheit, die im Sejm zwei Drittel der Abgeordnetensitze umfasst. Wenn dennoch für die Regierenden kein einziges Abgeordnetenmandat hinzukommt, so darf das als ein Erfolg für die demokratische Opposition verbucht werden. Die nun allerdings hat das wichtigste Wahlziel dieses Jahres nicht erreicht, denn Kaczyńskis Partei wird die Alleinregierung fortsetzen. Bereits im Mai bei den Wahlen zum Europäischen Parlament hatte sich gezeigt, dass erstens keine Wechselstimmung im Lande herrscht und dass zweitens die Tatsache der EU-Mitgliedschaft nicht ausreicht, den Nationalkonservativen auf ihrem Weg von nationaler Identität und Souveränität entscheidend das Wasser abzugraben, weil die es verstanden hatten, einem Großteil des Wahlvolks einzureden, der bessere Anwalt polnischer Interessen in Brüssel zu sein.
Anders als im Mai trat gegen Kaczyński keine breiter aufgestellte Koalition der Opposition an, was viele Beobachter frühzeitig als einen entscheidenden Nachteil ansahen, andere indes durchaus als einen Vorteil werteten, weil die einzelnen politischen Ausrichtungen ihre Wählerpotenziale besser erreichen und aktivieren könnten. Beide Richtungen hatten am Wahlabend genügend Argumente auf ihrer Seite, denn die hohe Stimmenzahl spricht tatsächlich für das weitgehende Ausschöpfen der Wählerpotenziale, die Zahl der erreichten Sejm-Mandate aber verrät den Nachteil von drei einzeln angetretenen Listen.
Die im Kern liberal ausgerichtete Bürgerkoalition, die vom konservativen bis zum linksliberalen Flügel reichte und schließlich unter ihren 134 Mandaten auch drei grüne Abgeordnete ins Parlament brachte, wird mit 27,4 Prozent der abgegebenen Stimmen die wichtigste Oppositionskraft sein, die künftig außerdem das gesamte demokratische Oppositionslager in die baldigen scharfen Auseinandersetzungen mit dem Regierungslager führen muss. Von der Bürgerkoalition wird entscheidend abhängen, wie sich das Oppositionslager für die im Mai 2020 anstehenden Direktwahlen für das Präsidentenamt aufstellt.
Eine wichtige, zudem kritische Stütze werden die Bürgerlich-Liberalen im Parlament nun in den 49 linksgerichteten Abgeordneten haben, die sich aus 12,6 Prozent der abgegebenen Stimmen ergeben. Während 2015 zwei getrennt antretende linksgerichtete Listen an den jeweiligen Prozenthürden scheiterten, obwohl zusammengerechnet mit knapp 11 Prozent der abgegebenen Stimmen ein gutes Ergebnis erreicht wurde, war der Parlamentseinzug der aus drei unterschiedlichen Gruppierungen sich zusammensetzenden Linken außerdem ein wichtiges Signal, denn die Linksdemokraten der SLD, die Frühlingsrichtung von Robert Biedroń und die linke Razem-Partei werden nun zu entscheiden haben, wie Linkskräfte in Polen sich künftig grundsätzlich ausrichten wollen.
Nicht unter die Räder gekommen sind die moderaten Agrarier der PSL, die mit 8,6 Prozent der abgegeben Stimmen und 30 Abgeordneten ein wichtiges Lebenszeichen setzten, denn die Nationalkonservativen hatten noch im Frühjahr damit gerechnet, die einzige ernsthafte Konkurrenz in den ländlichen Gebieten aus dem Parlament heraushalten zu können. Die Agrarier stärkten in den zurückliegenden Monaten insbesondere das konservative Profil, was vom Wahlvolk in den Dörfern und kleinen Städten durchaus honoriert wurde.
Zu einem wichtigen Erfolg kam die demokratische Opposition bei den Wahlen zum Senat, dem Oberhaus, das sich aus den in einem Wahlgang ermittelten Siegern in 100 Wahlkreisen zusammensetzt. Dort wird das Oppositionslager künftig mit 51 Abgeordneten vertreten sein, was das Kaczyński-Lager als eine schmerzliche Niederlage und als Warnsignal verbuchen wird. Die drei Listen hatten sich frühzeitig geeinigt, jeweils nur mit einem Kandidaten anzutreten, was auch weitgehend eingehalten wurde und zum Erfolg führte. Nun gibt es eine Möglichkeit, die von der Sejm-Mehrheit verabschiedeten Gesetzentwürfe im Parlament zusätzlich zu beleuchten, was einer kritischen Öffentlichkeit in die Hände spielen wird.
Einst hatte Lech Wałęsa bei einer kniffligen Frage das versammelte Journalistenheer mit der eigenwilligen Antwort verblüfft: Ich bin dafür und sogar dagegen! Es scheint, als wäre Polens Souverän am 13. Oktober 2019 dieser tiefen Dialektik gefolgt.