22. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2019

Aufstieg und Niedergang einer Supermacht

von Wolfgang Kubiczek

„Während meines langen Lebens in diesem Land war Amerika immer im Krieg. Kurze Kriege, lange Kriege, ein Weltkrieg, der Kalte Krieg, geheime Kriege, Stellvertreterkriege, Anti-Drogen-Kriege, Anti-Terror-Krieg, aber immer eine Art von Krieg. Während diese Kriege gewöhnlich in weit entfernten Ländern […] ausgefochten wurden und uns der unvorstellbare Bombenterror, Beschießungen und Massenevakuierung erspart blieben, trat seine Realität ständig unterhalb der Oberfläche des amerikanischen Lebens zutage.“ So beginnt Alfred W. McCoy sein Buch über den Aufstieg der USA zu globaler Herrschaft und deren Erosion.
McCoy, Professor für Geschichte an der Universität Wisconsin-Madison, wurde 1972 mit seinem Buch „The Politics of Heroin in Southeast Asia“ bekannt (deutsch: „Die CIA und das Heroin. Weltpolitik durch Drogenhandel.“ Neuausgabe Westend, Frankfurt 2016). Vom Studium der USA-Politik in Südostasien kam er zu einer globaleren Sicht besonders auf deren verdeckte Mittel und Methoden wie den Einsatz von Folter und Überwachungspraktiken. McCoy sammelte ausreichend eigene Erfahrungen, so beim Versuch der CIA, die Veröffentlichung seines ersten Buches zu verhindern. „Auf der persönlichen Ebene“, berichtet er, „fand ich heraus, wie weit der Zugriff der Geheimdienste des Landes reicht, sogar in einer Demokratie, indem sie keinen Teil meines Lebens außer Acht ließen – meinen Verleger, meine Universität, meine Steuern, mein Telefon und sogar meine Freunde.“
Ausgangspunkt seiner Betrachtungen über Weltimperien sind die Thesen des britischen Geografen Halford Mackinder (1861–1947), der die Heartland-Theorie mit der geopolitischen Kernthese entwickelt hatte, der Schlüssel zur Weltherrschaft liege nicht in der Beherrschung der Seewege – die Strategie des britischen Imperialismus –, sondern in der Herrschaft über das Kernland Eurasiens. Europa, Asien und Afrika werden als einheitliche Landmasse, als „Weltinsel“, betrachtet, deren Kernland sich über 4000 Meilen vom Persischen Golf bis zur Ostsibirischen See erstreckt. McCoy schließt sich der Feststellung des britischen Historikers John Gareth Darwin an, wonach das von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete „kolossale Imperium“ darauf beruhe, dass es erstmalig einer Weltmacht gelang, alle strategischen Punkte entlang einer Achse zu beherrschen, die die Endpunkte Eurasiens von Japan bis Westeuropa miteinander verbindet.
Den von ihm als Synonym für die US-amerikanische Weltherrschaft benutzten Begriff „empire“ definiert McCoy als „Form der globalen Herrschaft, bei der eine dominante Macht Kontrolle über das Schicksal anderer ausübt, entweder mittels direkter territorialer Herrschaft (Kolonien) oder durch indirekte Einflussnahme (militärisch, wirtschaftlich und kulturell).“ Die Dominanz von Imperien betrachtet er als eine „unleugbare, unveränderliche Tatsache der menschlichen Geschichte.“ Eine friedliche Welt, die „freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen“ entwickelt (UN-Charta), ist im Umkehrschluss eine Illusion – eine pessimistische, aber bislang leider zutreffende Einschätzung.
Das Buch wird von drei Grundthesen getragen:
– Die USA beherrschen ein Weltimperium, das sie durch immer neue Strategien, Mittel und Methoden aufrechterhalten wollen.
– Dieses Weltimperium ist in den Prozess des Verfalls eingetreten.
– Die Ablösung der USA als weltstärkste Macht durch China hat begonnen.
Der Aufstieg der USA zur Weltmacht erfolgte in drei Phasen, deren jede durch Kriege ausgelöst wurde. Er begann mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898, in dem sich die USA zur Kolonialmacht über Kuba, Puerto Rico, Guam und die Philippinen verwandelten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte im Ringen mit der Sowjetunion den Aufstieg zur globalen Dominanz. Grundlage für den Machtzuwachs war die überwältigende Stärke der aus dem Krieg ungeschoren hervorgegangenen USA-Wirtschaft mit einem Anteil von 35 Prozent an der Weltwirtschaft und eine Militärmacht, die über ein gewaltiges Nukleararsenal und ein weltumspannendes Netz von Militärstützpunkten verfügte.
In den Folgejahren, so der Autor, errichtete Washington „eine hierarchische Ordnung mit liberalen Charakteristika“, die sich auf „multilaterale Institutionen, Bündnisse, Sonderbeziehungen und Satellitenstaaten“ stützte. Zudem setzten die USA zunehmend auf eine vierte Ebene internationaler Machtausübung: die Spionage- und Diversionstätigkeit. Sie umfasste globale Überwachung durch die NSA und verdeckte CIA-Operationen auf allen Kontinenten, die Manipulation von Wahlen, die Initiierung von Staatsstreichen und nötigenfalls den Einsatz von Stellvertreterarmeen. Mehr als alles andere unterscheidet diese geheime Ebene die Globalherrschaft der USA von vorherigen Imperien, konstatiert der Autor. Ergänzt wurde diese „Hardware“ der Machtausübung durch Sendungen der Stimme Amerikas (seit 1942) und von Radio Free Europe (seit 1949) sowie den „unleugbaren globalen Reiz der Hollywood-Filmindustrie.“
Nach der Terrorattacke von 2001 in New York, schreibt McCoy, entwickelte Washington neue Technologien zum Erhalt seiner Hegemonie für den Weltraum, den Cyberspace, den Einsatz unbemannter Flugkörper und den militärischen Einsatz von Robotertechnik. Nach zehn Jahren Antiterrorkampf haben sich die Geheimdienste, hier zitiert der Autor die Washington Post, zu einer wahrhaft „vierten Branche“ der Regierungstätigkeit entwickelt – mit 854.000 überprüften Beamten, 263 Sicherheitsorganisationen und 3000 nachrichtendienstlichen Sondereinheiten. Diese Art der „internationalen Tätigkeit“ übersehen Analytiker gern, obwohl sie bereits im kalten Krieg auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs ausgeufert war. Bereits Präsident Eisenhower (1953–1961) veranlasste 170 verdeckte CIA-Operationen in 48 Staaten, Kennedy erteilte in seinen drei Amtsjahren (1961–63) weiteren 163 verdeckten Operationen seine Zustimmung. Die CIA war verwickelt in die Manipulation von Wahlen in Italien, das Abschlachten von Millionen Kommunisten in Indonesien, den Sturz des Präsidenten Arbenz in Guatemala, den Staatsstreich gegen die Allende-Regierung in Chile, Unterstützung und Bewaffnung islamistischer Fundamentalisten in Afghanistan im Kampf gegen die sowjetische Truppenpräsenz, um nur einige Aktionen zu nennen. Infolge des zunehmenden Einsatzes verdeckter Operationen „verwandelten sich die Geheimdienste von Manipulatoren am Rande der Staatsmacht zu Hauptakteuren der internationalen Politik.“ Nach McCoy ist es wahrscheinlich, dass diese Herrschaftsmethoden im 21. Jahrhundert noch größeren Stellenwert einnehmen werden.
Ausführlich analysiert er eine weitere Säule der USA-Dominanz: die Entwicklung eines weltweiten Systems höriger Eliten. Er erinnert an eine berüchtigte Debatte im Weißen Haus zur Zeit Eisenhowers. Der damalige Finanzminister George M. Humphrey riet seinen Kollegen vom Nationalen Sicherheitsrat (NSC) anlässlich einer Diskussion über Guatemala, sie sollten „aufhören, so viel über Demokratie zu reden“, und stattdessen „die Diktaturen der Rechten unterstützen, wenn deren Politik proamerikanisch ist.“ Eisenhower fasste zusammen: „They’re OK if they are our s.o.b.s.“ (Sie sind in Ordnung, wenn sie unsere Hurensöhne sind.) Dieser Maxime folgt die USA-Politik mit leichten Variationen bis heute. Um das System der Abhängigkeiten zu erhalten, leistete man weltweit massiv Militärhilfe, stellten USA-Berater enge Beziehungen zum Offizierskorps vieler Länder her, wurden aufmüpfige Regierungen per Militärcoup gestürzt und durch US-freundliche Militärdiktatoren ersetzt. Diese Säule der Vorherrschaft habe jedoch in den letzten Jahren Risse bekommen und beginne zu bröckeln.
Als „besondere“ Methoden zur Herrschaftssicherung analysiert McCoy die Errichtung eines globalen Überwachungssystems, den Einsatz von Folter und die Entwicklung neuer Waffensysteme. Er betont, dass der Ausbau des Überwachungssystems nach innen und außen unter der oft verklärten Obama-Administration keinesfalls abgeschwächt wurde. „Präsident Obama weitete stattdessen das digitale Projekt der NSA zu einer ständigen Waffe der globalen Machtausübung aus.“ Milliarden E-Mails werden abgefangen, dutzendweise werden führende Politiker des Auslands überwacht. Ein solches Überwachungsimperium hat zwangsläufig Folgen für die Innenpolitik, da die Versuchung besteht, die gleichen Methoden zur Kontrolle der eigenen Bevölkerung einzusetzen.
McCoy hat über viele Jahre die Folterpraktiken von CIA und Militär erforscht. Eines seiner Bücher, „Foltern und Foltern lassen: 50 Jahre Folterforschung und -praxis von CIA und US-Militär“, ist 2005 in Deutschland erschienen. Nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 beschloss die Bush-Administration, dass „keine der Genfer Bestimmungen auf unseren Konflikt mit al-Qaida in Afghanistan oder anderswo in der ganzen Welt zutreffen“. Damit wurden jegliche Anforderungen an „Minimalstandards für eine menschliche Behandlung“ von Gefangenen außer Kraft gesetzt. Darüber hinaus gestattete Washington der CIA, ihr eigenes globales Netz von Foltergefängnissen zu betreiben. Dieser supranationale Gulag umfasste acht geheime „black sites“ von Thailand bis Polen sowie Gefängnisse und Folterkammern von Marokko über Ägypten bis Usbekistan. Diese Foltergefängnisse wurden zu Brutstätten künftiger Jihadisten. Der mit der Untersuchung der Foltervorfälle im Abu-Ghuraib-Gefängnis beauftragte Generalmajor Antonio Taguba kam in seinem geheimen Bericht zum Schluss: „…es gibt keinerlei Zweifel, dass die gegenwärtige Administration Kriegsverbrechen begangen hat. Die einzige verbleibende und zu beantwortende Frage ist, ob diejenigen, die die Anwendung von Folter befohlen haben, zur Rechenschaft gezogen werden.” Als der Bericht öffentlich wurde, war die Karriere des Generals faktisch beendet. Obwohl Barack Obama später gegen die Folterpraktiken eintrat, erklärte er bei einem Besuch des CIA-Hauptquartiers, dass es keine strafrechtliche Verfolgung der Täter geben wird. Unter Donald Trump sind maßgebliche Befürworter oder Verantwortliche des Einsatzes von Folter in höchste Positionen gelangt, darunter der jetzige Außenminister Mike Pompeo, zuvor CIA-Chef, und seine Nachfolgerin Gina Haspel. Für McCoy ist der systematische Einsatz von Folter ein Zeichen des Niedergangs einer Weltmacht.
Die künftigen „Wunderwaffen des Pentagon“ (McCoy) werden vorrangig für völkerrechtlich nicht regulierte Räume – Cyberspace und Weltraum – entwickelt. Um 2030 will das Pentagon über ein hochentwickeltes Überwachungssystem und bewaffnete Drohnen verfügen, die den gesamten Raum zwischen der niederen Stratosphäre und der Exosphäre abdecken. Waffensysteme könnten jeden Punkt der Erde in atemberaubender Geschwindigkeit erreichen oder das Satellitenkommunikationssystem eines Gegners ausschalten. Einzelpersonen könnten biometrisch über lange Distanzen verfolgt und getötet werden. Zusammen mit der fortgeschrittenen Cyberkriegsführungskapazität soll dieses nie dagewesene militarisierte Informationssystem die Weltherrschaft bis tief in das 21. Jahrhundert garantieren. Der ultimative Test für all diese militärischen Innovationen wird die Fähigkeit sein, meint der Autor, immer einen Schritt vor dem einzig ernst zu nehmenden Rivalen China zu sein. Russland spielt in diesen Betrachtungen eine untergeordnete Rolle.
Bestimmend für das Schicksal der Welt sei in den nächsten Jahrzehnten der „epochale geopolitische Wettstreit“ zwischen den beiden „mächtigsten Nationen China und den Vereinigten Staaten“. In den kommenden zehn, zwanzig Jahren werde noch keine Klarheit geschaffen, welche der beiden Strategien erfolgreich sein wird: Ob es China gelingt, Asien, Afrika und Europa zu jener „Weltinsel“ zu vereinen, oder ob Washington die Kontrolle über den eurasischen Kontinent mittels seiner Achsenpositionen von der pazifischen Küstenzone bis Westeuropa sichern kann.
Der einst noch undenkbare Aufstieg Chinas zu einer der beiden größten Wirtschaftsmächte drohe das geopolitische Gleichgewicht auf den Kopf zu stellen. Auch wenn sich das chinesische Wachstumstempo verlangsamen sollte, wird erwartet, dass die ökonomische Führungsposition der USA von China entscheidend übertroffen wird. Im Unterschied zu den USA konzentriere sich China darauf, tief in das Herz Eurasiens einzudringen, um die geopolitischen Grundlagen der Weltherrschaft zu verändern. Dabei verfolge es einen Zwei-Stufen-Plan: die Schaffung einer transkontinentalen Infrastruktur als Grundlage der wirtschaftlichen Integration der drei Kontinente und die Aktivierung seiner Streitkräfte. Gelänge es China, seine Industrie mit den gewaltigen Naturreichtümern des eurasischen Herzlandes zu verbinden, sei das Weltimperium in Sicht.
Abschließend versucht sich McCoy in Zukunftsszenarien über das Ende des amerikanischen Zeitalters – ein gewagtes Unternehmen, da die Geschichte zeigt, dass die Mannigfaltigkeit und die Interaktion der einwirkenden Kräfte nicht zuverlässig zu erfassen und fortzuschreiben sind. Für ihn steht aber fest, dass unter historischem Blickwinkel nicht die Frage steht, ob die USA ihre globale Macht verlieren, sondern wie überstürzt und schmerzhaft sich dies vollziehen wird. Allerdings kommen für ihn weder Russland noch China aufgrund ihrer „selbstbezogenen, nach innen gerichteten Kultur, ihrer nichtlateinischen Schriftsprache, nichtdemokratischer politischer Strukturen und eines unterentwickelten Rechtssystems“ für die künftige Weltherrschaft in Frage.
Im günstigsten Fall könne sich die Welt auf die gemeinsame Lösung globaler Probleme wie Umweltschutz, Klimawandel, Wassermangel konzentrieren. Das böte eine Überlebenschance für die derzeitige liberale internationale Ordnung von Recht, Verträgen und internationalen Organisationen. Dann könnte zwischen 2020 und 2030 ein globales Oligopol der aufstrebenden Mächte China, Russland, Indien und Brasilien mit den absteigenden Mächten Großbritannien, Deutschland, Japan und den USA kooperieren. Da schwebt dem Autor wohl ein ähnliches Mächtekonzert vor, wie es nach dem Wiener Kongress 1815 in Europa zeitweilig den Frieden sicherte. Als düsterste Variante einer künftigen Weltordnung sieht er dagegen eine Koalition aus transnationalen Monopolen, multilateralen Militärbündnissen und einer in Davos und Bilderberg selbsterwählten Finanzelite, die einen supranationalen Verbund schmieden und jegliche Nation oder Macht überflüssig machen.
Nach der Erörterung verschiedener Szenarien räumt McCoy ein, dass sich am Horizont ein „game changer“, eine Situation, in der die Karten neu gemischt werden, abzeichnet: die verheerenden Konsequenzen des Klimawandels. Im Unterschied zu den anderen Szenarien beruht der Klimawandel auf eindeutig wissenschaftlichen Erkenntnissen und lässt keinen Raum für Spekulationen. Der Autor stimmt mit dem „US National Intelligence Council“ überein, wenn er feststellt, dass bereits eine graduelle Intensivierung des Klimawandels in den nächsten zwei Dekaden Auswirkungen auf die nationale Sicherheit der USA und damit auf ihre Fähigkeit zur internationalen Machtausübung haben würde. Dieses globale Problem beträfe aber auch die Ambitionen anderer Großmächte.
Alles in allem hat McCoy ein lesenswertes, anregendes und mit einem üppigen wissenschaftlichen Apparat ausgestattetes Buch verfasst, dass viel Anlass zu Diskussion, Widerspruch aber auch Zustimmung gibt. Leider ist es nicht in deutscher Übersetzung erschienen.

Alfred W. McCoy: In the Shadows of the American Century. The Rise and Decline of US Global Power, Haymarket Books, 2017, 359 Seiten.