22. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2019

30 Jahre alte Geschenke

von Wolfgang Hochwald

Wer weiß heute noch, wie er sich vor 30 Jahren in der (Nach-)Wendezeit gefühlt hat und welche Gedanken ihn beschäftigt haben, sei es als Bürger der alten BRD oder der verschwindenden DDR? Michael Kleff, Journalist und Autor zahlreicher Radiofeatures zu politischen und musikalischen Themen und über 16 Jahre Chefredakteur der Musikzeitschrift Folker, nimmt uns mit auf eine Zeitreise zurück in die Monate zwischen April 1990 und September 1992, in denen er für den Deutschlandfunk knapp 30 Liedermacher und Kabarettisten aus der DDR interviewte. Diese Gespräche wurden von Kleff – zusammen mit dem Musiker, Autor und Komponisten Hans-Eckardt Wenzel – nun erstmals unter dem Buchtitel „Kein Land in Sicht“ vollständig veröffentlicht.
Zu den Interviewpartnern zählen die Liedermacher Gerhard Gundermann, Stephan Krawczyk und Bettina Wegner, der Kabarettist der Berliner „Distel“, Peter Ensikat, die 1984 in die DDR übergesiedelte Schriftstellerin Gisela Kraft, der Begründer der Hootenanny-Bewegung, der Kanadier Perry Friedman, und viele weitere, zumindest dem westlichen Leser nicht durchgängig bekannte Künstler. Sehr hilfreich sind daher die vom Kulturwissenschaftler Lutz Kirchenwitz sachkundig erarbeiteten Kurzbiografien, die zudem einen interessanten Einblick darin geben, wie es beruflich und persönlich für die Interviewten bis heute weitergegangen ist, ob sie mit ihrer Kunst einen Platz in der Nachwendezeit gefunden haben, inzwischen einem anderen Beruf nachgehen oder bereits verstorben sind.
Für den Leser, zumal den mit der DDR-Musikszene nicht vertrauten, ergibt sich aus den Gesprächen sukzessive ein Bild der Liedermacher- und Kabarettistenszene, angefangen mit der Hootenanny-Bewegung und den daraus entstandenen Singeklubs wie dem „Oktoberklub“. Welche Gedanken ziehen sich durch die Gespräche in dieser Transformationsphase, in der die Interviewten nicht anders als andere DDR-Bürger von Existenzängsten betroffen sind, Sorge vor dem Neuanfang haben, in ihrer speziellen Rolle als Künstler aber womöglich noch stärker als andere nach einer eigenen, neuen Identität suchen müssen? Die Unsicherheit darüber, welche Bedeutung die Wende und der Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten für sie persönlich, ihre Lieder und ihre Kunst haben, ist in den 1990 geführten Gesprächen besonders groß, aber auch 1992 noch deutlich zu spüren. Bettina Wegner fühlt sich wie im „Niemandsland“ und Hans-Eckardt Wenzel schaut auf das „Nebelland, was vor einem liegt“. „Wir sind ja in ein neues Land gekommen, ohne die Wohnung zu verlassen“, beschreibt es Peter Ensikat im September 1992.
Trotz der Freude, die in den letzten Jahren der DDR vorherrschende „Aussichts- und Bewegungslosigkeit“ hinter sich zu haben, kritisieren die Künstler den einsetzenden „Konsumkoller“ und äußern ihre Enttäuschung, ihre Fassungs- und Machtlosigkeit darüber, dass es keinen anderen Weg für die DDR gegeben habe als die „Übernahme“ durch die Bundesrepublik. Gerhard Gundermann formuliert es so: „Aber dass sich ein Land sozusagen geschlossen aufgibt, das ist irgendwie eine Eigenart.“
Viele Interviewpartner beschreiben, dass Lieder, Kabarett und Theater bis dahin eine „Stellvertreter- oder Ersatzfunkton“ dafür hatten, was in den Medien nicht behandelt wurde, und für sie nun fraglich sei, wovon ihre künftigen Lieder und Programme handeln könnten. Damit verbunden ist bei vielen der Künstler ein kritischer Blick auf Liedermacherkollegen, die – im staatlichen System eingerichtet – keine Existenzängste kannten, aber musikalisch und inhaltlich wenig zu bieten hatten. Für den mit der DDR-Kulturförderung nicht vertrauten Leser ist in diesem Zusammenhang interessant, wie Barbara Kellerbauer ihre Arbeit in der „Zentralen Honorarkommission“, in der die finanzielle Einstufung von Künstlern festgelegt wurde, beschreibt (und verteidigt).
Selbstkritisch fragen sich viele der Interviewten, welche Verantwortung sie rückblickend dafür trügen, was in der DDR geschehen sei, und ob sie ihre eigene Integrität beschädigt hätten. Dabei ist oft ein Anflug von schlechtem Gewissen angesichts dessen spürbar, dass man in der DDR gelebt habe. Aber: „Wer hätte denn die Wende machen sollen, wenn wir alle weggegangen wären?“ kontert Wenzel aus heutiger Sicht in seinem Vorwort. Viele Künstler vermissen den Zusammenhalt, die Bereicherung durch Nähe und Vertrautheit, die es in der DDR gegeben habe, und beobachten, dass das „Aufeinander-angewiesen-Sein“ und das „Einander-Helfen“ schon kurz nach der Wende zerfiele, weil die Menschen es (vermeintlich) nicht mehr bräuchten. Ein Stück menschliche Wärme ginge verloren und die Beziehungen verflachten wie im Westen.
Ein roter Faden, der sich durch viele Interviews zieht, ist die Sorge vor der bereits kurz nach der Wende auftretenden fremdenfeindlich motivierten Gewalt und dem aufkommenden Rechtsradikalismus. In diesen Passagen liegt die besondere Stärke des Buches und vielleicht der Hauptgrund der Herausgeber, die Gespräche heute zu veröffentlichen. In ihren jeweiligen Vorworten fordern Kleff und Wenzel, es sei an der Zeit, gegen den Angriff von Populisten auf Demokratie und Bürgerrechte aufzustehen. Dies erfordere auch, aus der Geschichte zu lernen, die manche Phänomene von heute erkläre. „Die hier dokumentierten Texte [… ] können […] helfen, die Ereignisse rund um das Ende der DDR rückblickend besser zu verstehen, und einen Beitrag leisten zu einem demokratischen Dialog um die enormen Veränderungen in Kultur und Gesellschaft“ (Kleff). Oder wie Wenzel schreibt: „Das Misstrauen in die Politik, das heute die Gesellschaft zu erodieren beginnt, hatte seinen Anfang in dieser Zeit. […] Dass es diese Interviews gibt, ist ein Geschenk. Denn wir dürfen in den sich unablässig beschleunigenden Prozessen die Erinnerung nicht aufgeben.“
Die Kabarettistin Gisela Oechelhaeuser formuliert im September 1992 recht weitsichtig, dass aus ihrer Sicht die wirkliche deutsche Vereinigung „vielleicht in den nächsten 50 Jahren“ stattfinden könne. Die Lektüre von „Kein Land in Sicht“ hilft dabei, den Prozess des Einigseins und -werdens vielleicht ein klein wenig zu beschleunigen.

Michael Kleff, Hans-Eckardt Wenzel (Hg.): Kein Land in Sicht – Gespräche mit Liedermachern und Kabarettisten der DDR, Ch. Links Verlag, Berlin 2019, 336 Seiten, 20,00 Euro.