von Detlef D. Pries
Am 2. September 1969, vor 50 Jahren, starb Ho Chi Minh, „Vater aller guten Vietnamesen“, wie es damals hierzulande in einem Lied hieß. Noch tobte der Krieg um die Einheit und die Behauptung der Unabhängigkeit Vietnams, die Ho Chi Minh 1945 – ebenfalls am 2. September – in Hanoi ausgerufen hatte. Besorgt darum, dass die Parallelität der Daten in der Bevölkerung womöglich als schlechtes Omen gewertet werden könnte, erklärte die vietnamesische Führung seinerzeit erst den 3. September zum Todestag des verehrten Präsidenten. Auch dass „Onkel Ho“ testamentarisch verfügt hatte, den Bauern nach Ende des Krieges für zwei Jahre die Steuer zu erlassen, wurde erst 21 Jahre später bekannt, als der tatsächliche Wortlaut des Testaments öffentlich wurde. Mit seiner Geste war Ho Chi Minh übrigens dem Vorbild der Schwestern Trung gefolgt, die im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine Erhebung gegen die chinesische Herrschaft angeführt hatten. Als sich eine der beiden Schwestern nach dem Aufstand zur Königin ausrief, gewährte sie ihren Untertanen für ihre Treue zwei Jahre Abgabenfreiheit.
Dies – und natürlich viel mehr – erfährt der Leser der „Geschichte Vietnams“, die Wilfried Lulei jüngst vorgelegt hat. Man kann dieses Buch wohl als Bilanz der wissenschaftlichen Arbeit seines Autors betrachten. Lulei, Jahrgang 1938, war Begründer und Leiter des Lehrstuhls für Vietnamistik an der Berliner Humboldt-Universität. Nicht unkritisch gegenüber der heutigen offiziellen vietnamesischen Geschichtsschreibung, schlägt er den Bogen „von den Hung-Königen bis zur Gegenwart“, wie der Untertitel lautet. Van Lang hieß das legendäre Reich der 18 Hung-Könige, die zwischen 2879 und 258 v.u.Z. geherrscht haben sollen. Jeder der 18 Könige müsste demnach 145 Jahre lang regiert haben – ein Grund dafür, dass manche Historiker die Periode gänzlich in den Bereich der Sagen verweisen, zumal ihre Geschichte erst nach dem 10. Jahrhundert – nach rund 1000-jähriger chinesischer Herrschaft – aufgeschrieben wurde. Auch Lulei wünscht sich eine klarere Unterscheidung zwischen Legende und historischer Wahrheit, sieht jedoch keinen Grund, die Existenz dieses Reiches völlig in Abrede zu stellen.
Zu den Legenden zählt Lulei auch die in der vietnamesischen Öffentlichkeit verbreitete Auffassung, die Zeit der tausendjährigen Zugehörigkeit zu China sei in erster Linie „eine Geschichte des Kampfes gegen die Fremdherrschaft“. Angesichts derzeitigen Streits zwischen beiden Staaten über die Zugehörigkeit von Inseln und Meeresgebieten wird dieses Bild gern benutzt. Mindestens aber muss man anerkennen, dass die lange Zugehörigkeit zum Reich der Mitte „die sozialökonomische und geistig-kulturelle Entwicklung Vietnams in hohem Maße beeinflusste“, wie Lulei betont.
Keinesfalls aber verhehlt der Autor seine Hochachtung vor den Leistungen des vietnamesischen Volkes und der beindruckenden wirtschaftlichen Entwicklung des Landes in den letzten Jahrzehnten. Als „Doi Moi“ (Erneuerung) ist die Reformpolitik der KP Vietnams seit 1986 auch international bekannt geworden. Wilfried Lulei räumt indes ein, dass die Vorstellungen davon, wie die Marktwirtschaft unter sozialistischen Vorzeichen auf die Dauer funktionieren soll, „noch wenig konkret“ sind. „Die Aufgabe des Sozialismus wird darin gesehen, die negativen Nebenerscheinungen der schnellen marktwirtschaftlichen Entwicklung vor allem im sozialen Bereich abzufedern“, schreibt er. Neben vielen anderen spannenden Details aus der langen Geschichte erklärt Lulei auch, warum es noch heute viele Vietnamesen für möglich halten, „buddhistische und konfuzianische Gedanken miteinander zu verbinden, gleichzeitig Mitglieder einer kommunistischen Partei und kapitalistischer Unternehmer zu sein“.
Fazit: Für Leser, denen das so ferne südostasiatische Land nach wie vor nah ist, hat Wilfried Lulei eine Fundgrube geöffnet.
Wilfried Lulei: Geschichte Vietnams. Von den Hung-Königen bis zur Gegenwart. Regiospectra Verlag, Berlin 2018. 313 Seiten, 24,90 Euro.
*
Zurück zu jenem Krieg, dessen Ende Ho Chi Minh nicht mehr erlebte. Einer, der Augenzeuge dieses Krieges war, ist Hellmut Kapfenberger, 1970–1973 und 1980–1984 Korrespondent der Nachrichtenagentur ADN und des Neuen Deutschlands in Hanoi. Das Land, seine Bewohner und ihr Schicksal haben ihn nie losgelassen. Neben anderen Publikationen veröffentlichte Kapfenberger vor zehn Jahren „Ho Chi Minh – eine Chronik“. Jetzt folgt eine Monografie des „Ho-Chi-Minh-Pfads“. Als Geburtsdatum dieses Straßen- und Wegenetzes, dessen Bau den Verlauf des Krieges wesentlich beeinflusst hat, gilt der 19. Mai 1959, der 69. Geburtstag Ho Chi Minhs. Militäramtlich hieß das Werk „Strategische Militärtransporttrasse Truong Son“ – nach dem Kettengebirge, das als „Rückgrat“ Vietnams über weite Strecken seine Westgrenze bildet. Die britische Nachrichtenagentur Reuters soll 1964 erstmals von der „Piste Ho Chi Minh“ geschrieben haben.
Kapfenberger widmet sich eingehend der Entstehungsgeschichte: In historischen Rückblicken wird heute oft behauptet, die Genfer Indochina-Konferenz 1954 – nach der Niederlage der französischen Kolonialarmee bei Dien Bien Phu – habe die Bildung zweier vietnamesischer Staaten beschlossen. Woraus geschlossen wird, dass sich Nordvietnam der Aggression gegen einen legitim entstandenen, souveränen südvietnamesischen Staat schuldig gemacht habe. Tatsächlich wurden in Genf jedoch zwei „Umgruppierungszonen“ und zwischen beiden eine „zeitweilige militärische Demarkationslinie“ fixiert. Die geplanten gesamtvietnamesischen Wahlen fanden nicht statt, weil „möglicherweise 80 Prozent der Bevölkerung für den Kommunisten Ho Chi Minh gestimmt“ hätten (USA-Präsident Dwight D. Eisenhower). Erst als im Süden patriotische Kräfte mit Unterstützung der USA blutig verfolgt wurden, gab die Führung im Norden ihre Zurückhaltung auf und begann, den Landsleuten direkte Hilfe zu erweisen. Bis März 1965 jedoch waren fast alle „Eindringlinge“ Südvietnamesen, die 1954 in den Norden „umgruppiert“ worden waren. Und deren Zahl, betont Kapfenberger, war geringer als die der sogenannten Militärberater aus den USA im Süden. Letztere ließ ihren Nachschub – und den für die südvietnamesische Armee – auf stark befestigte Stützpunkte einfliegen. Der „Ho-Chi-Minh-Pfad“ dagegen begann als Trampelpfad, auf dem Trägerkolonnen pendelten. Daraus entstand ein Netz von Nachschubtrassen, das nach seiner Entdeckung durch den Gegner in aufopferungsvollen Schlachten verteidigt und nach Bombenangriffen immer wieder ausgebessert werden musste. Verantwortlich dafür war das Armeekorps 559, das bis 1973 auf 100.000 Männer und Frauen verstärkt und von zehntausenden zivilen Kräften unterstützt wurde. Ab 1961 gab es den „Pfad“ auch auf See, dazu kam ein Rohrleitungssystem für Kraftstoffe und Öl, das rund 5000 Kilometer Länge erreichte.
Äußerst detailreich schildert der Autor das Wachsen und Werden dieser Trassen. Seine Bewunderung für die Leistungen, die damit verbunden waren, will er nicht verbergen. Kapfenberger würdigt das „Werk zehntausender namenloser Helden“ als ein „überwältigendes Resultat menschlicher Schöpferkraft“ – im Dienste des Krieges! Wem diese und andere Wertungen zu überschwänglich klingen, dem hält der Autor die Einschätzung der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) entgegen, die den „Ho-Chi-Minh-Pfad“ als „eine der größten Errungenschaften militärischen Ingenieurwesens des 20. Jahrhunderts“ beschrieb.
Kapfenberger verschweigt die Opfer nicht. Zuverlässige Zahlen über militärische und zivile Verluste entlang der Nachschubtrasse, auf der bis Kriegsende 1975 unter anderem zwei Millionen Tonnen Waffen, Munition und andere Ausrüstungsgegenstände transportiert wurden, konnte er jedoch nicht ermitteln. Das Archiv des vietnamesischen Verteidigungsministeriums war ihm nicht zugänglich.
10.000 Opfer sind auf einem zentralen Friedhof in der Provinz Quang Tri begraben; auch ein Museum des „Ho-Chi-Minh-Pfads“, der einst als streng geheim galt, gibt es inzwischen.
Hellmut Kapfenberger: Ho-Chi-Minh-Pfad. Die Geschichte der legendären Nachschubtrasse. Verlag Wiljo Heinen, Berlin und Böklund 2019. 500 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Detlef D. Pries, Geschichte, Hellmut Kapfenberger, Ho Chi Minh, Krieg, Vietnam, Wilfried Lulei