22. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2019

Was bleibt oder Die magischen Momente

von Joachim Lange

Der Festspielsommer ist vorbei. In Bayreuth und in Salzburg. Was dem Besucher bleibt, sind die starken Eindrücke, samt der Aufreger, die nicht vorgesehen waren. Im besten Falle sind es magische Momente des Augenblicks. Und das, was von den Festspielen weiterzieht. Auch in Salzburg werden manche Produktionen wieder aufgenommen, weil sie beim ersten Mal „einschlugen“. Wie Romeo Castelluccis „Salome“ vom Vorjahr oder die „Alcina“ aus dem Programm von Cecilia Bartolis Pfingstfestspielen. Für das Schauspiel an der Salzach geben sich ohnehin die deutschsprachigen Bühnen ein Stelldichein, werden die sommerlichen Premieren zum Probelauf für das eigene Repertoire. Wie in diesem Jahr Thomas Ostermeiers Inszenierung von Horvaths „Jugend ohne Gott“, die bereits im September an der Berliner Schaubühne zu erleben ist. Und die Uraufführung von Theresia Walsers neuem Stück „Die Empörten“, das der Stuttgarter Schauspielchef Burkhard Kosminski hier auch für sein Haus inszeniert hat.
Bei immerhin fünf Opern-Neuinszenierungen und zwei Wiederaufnahmen auf dem Programm des Nobelfestivals werden die Hitlisten unterschiedlich ausfallen. Kann gut sein, dass auch Anna Netrebko dort vorkommt, obwohl sie in keiner Inszenierung dabei war, sondern ihre Fans nur mit zwei (von geplanten drei) konzertanten Auftritten als Adriana Lecouvreur in Francesco Cileas gleichnamigem Opernschmachtfetzen im Großen Festspielhaus begeisterte. Und wie immer auch ohne Regisseur packende Oper lieferte. Mit der Absage der mittleren Vorstellung (sie hatte sich erkältet) sorgte sie dafür, dass sich ein Teil des Publikums, der vor allem ihretwegen tief in die Tasche gegriffen hatte, völlig daneben benahm. Den Salzburger Nachrichten war das ganz zu Recht eine Standpauke für diese Zuschauer wert.
Bei den Bayreuther Festspielen ging ihre recht kurzfristige Absage des geplanten Debüts als Elsa im „Lohengrin“ Mitte August ohne solche Proteste durch. Da hat wohl Annas bislang tadelloses Profi-Image Kratzer bekommen, denn die Wagner-Gemeinde reagierte eher mit einem „dann eben nicht“. Auch Netrebkos Förderer von einst und Landsmann Valery Gergiew musste wegen eines Trauerfalls eine Vorstellung absagen. Dem rastlos in aller Welt dirigierenden Putin-Freund hatte die Kritik nach der „Tannhäuser“-Premiere zur Eröffnung der Festspiele unisono bescheinigt, die akustischen Tücken des Hauses auf dem Grünen Hügel mit seinem verdeckten Graben unterschätzt zu haben. Schon die Ankündigung, dass Christian Thielemann für ihn einspringen würde, wurde jedenfalls euphorisch bejubelt. Der neue „Tannhäuser“ wird auch in den nächsten Jahren im Bayreuther Programm bleiben – neben „Lohengrin“, „Meistersingern“ und einem neuen Nibelungen Ring. Mit dessen Regisseur Valentin Schwarz war es Hügel-Chefin Katharina Wagner sogar gelungen, alle Auguren zu verblüffen …
Neu in Bayreuth ist neben dem Kanon der von Richard selbst festgelegten zehn Opern, zwischen „Fliegendem Holländer“ und „Parsifal“, seit zwei Jahren der Diskurs Bayreuth. Ganz nach Richards Motto „Kinder! macht Neues!” diesmal sogar mit einer Schauspiel-Uraufführung. Feridun Zaimoglu und Günter Senkel haben sich da in einem Monolog mit dem Leben Siegfried Wagners (1869–1930) auseinandergesetzt. Der Text ist programmatisch fokussiert auf die Jahre 1914 und 1930 und von Regisseur Philipp Preuss auf zwei Schauspieler verteilt. Ein Bayreuth-Thema, aber so exemplarisch, dass man sich das Stück durchaus auch an anderen Bühnen gut vorstellen könnte. In Wagners Geburtsstadt Leipzig etwa, wo sich die Oper anschickt, im Juni/Juli 2022 alle Wagner-Opern aufzuführen.
Bei der Uraufführung der “Empörten” im Salzburger Landestheater muss Theresia Walser die Besetzung der zentralen Rolle vor Augen gehabt haben. Und so war der Abend für alle Fans von Caroline Peters ein Fest! Sie kann all ihre Vorzüge ausspielen, sich wundern und empören, diesen Nun-komm-mal-wieder-runter-Ton anschlagen, Wahrheiten aussprechen, als fielen sie ihr gerade ein. Ihre Bürgermeisterin Corinna Schaad liegt hier nicht weit weg von ihrer hinreißenden Fernsehkommissarin in „Mord mit Aussicht“. Die Umgebung ist in dem Dorf Irberstheim, dem sie vorsteht, etwas hochgebirgiger als in Henasch.
Sie ist die Liberale mit dem weiten Herzen, die sich im Zweifel für eine Industrieansiedlung entscheidet, aber auch für die Aufnahme von Migranten. Sie nimmt die fiesen Anfeindungen von rechts eher sportlich als persönlich. Die kommen ungefiltert und mit Lust am sprachlichen Tabubruch von der politischen Konkurrentin. Mit dem triumphierenden Unterton der Kommenden im Wartestand und dem grassierenden „das-wird-man-doch-noch-sagen-dürfen“. Elsa Lerchenberg (Silke Bodenbender) hat keinerlei Skrupel beim Kampf um die Macht.
Die Empörung ist hier das aktuelle Wutbürger-Hintergrundrauschen einer boulevardesken Groteske. Zu Beginn wird eine Leiche in der historischen Truhe im Rathaus verstaut. Es ist der Halbbruder der Bürgermeisterin, den sie zusammen mit ihrem anderen Bruder aus dem Leichenschauhaus entwendet hat, noch bevor er identifiziert werden konnte. Er war als Pizzafahrer mit dem Auto in eine Menschenmenge gerast. Neben ihm kam ein integrierter, aus der Türkei stammender Mitbürger um. Da der Unglücksfahrer beim Crash den Gott der Muslime hochleben ließ, ist das Ganze ein Problem für die Schwester, die wiedergewählt werden will. Der Tote in der Truhe verleiht dem Ganzen einen Hauch von „Arsen und Spitzenhäubchen” oder Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“. Mit dem Auftritt ihrer rechtspopulistischen Konkurrentin, die in jedem Satz als solche zu erkennen ist, zielt das Stück auf einen Kommentar zur Lage, zumindest des politischen Diskurses.
Walser entscheidet sich für die unverstellte Wiedererkennbarkeit. Die Bürgermeisterin führt das große „Wir-schaffen-das-Wort“. In der Inszenierung des Walser-erfahrenen Stuttgarter Schauspielintendanten kommen aber auch die anderen über die Rolle der Stichwortgeber hinaus. Sven Prietz ist der Bruder Anton, den sie zum Komplizen macht – ein verstrubbeltes Weichei aus dem Bilderbuch. André Jung schreibt als Pilgrim nicht nur seiner Chefin, sondern auch der Oppositionsführerin fast deckungsgleiche Reden. Der Mann mit Amt und ohne Meinung, auf den nicht mal die Lichtschranke reagiert. Und der am liebsten oben auf der Leiter sitzen bleibt, bis entschieden ist, ob das Kreuz an der vertäfelten Wand der Amtsstube hängen bleiben soll oder nicht. Nicht nur wenn er – ganz im Gegensatz zum eigenen Selbstbewusstsein – von oben und sie von unten miteinander reden, also der Pragmatismus des Machtbewusstseins auf den des willfährigen Dienens trifft, kommt Spannung jenseits der Politsatire auf.
Das Kreuz stört übrigens die Witwe des umgekommenen Muslims nicht. „Sie brauchen ihren Jammermann“ habe ihr Mann immer gesagt, meint mit der Stimme der pragmatischen Vernunft die Witwe des Opfers Frau Achmedi (etwas allzu sehr im Aufsagemodus: Anke Schubert). Gewählt hat sie die Bürgermeisterin nicht, weil die sie in eine Wohnung neben den zugezogenen „Balkanschlampen” verfrachtet hat. Sie vollendet denn auch einen der schon allzu abgehangenen Witze der kleinen Münze im Stück: Auf die Bemerkung „Sie sprechen aber gut Deutsch“ darf die hier Geborene antworten: „Sie auch.“ – Nun ja.
Theresia Walser hat etliches eingebaut, was wohl der Selbstüberprüfung der Zuschauer dient. Meistens lacht man ja unwillkürlich, bevor man etwas bewusst reflektiert.
Unter die titelgebenden Empörten (Wähler, Konkurrenten, Zeitgenossen) mischten sich nach der Uraufführung auch viele der Kritiker, denen es wohl ein Zuviel des verbalen Status quo der Ratlosigkeit war.
Und die Momente der Magie? Für einen sorgte Dirigentenlegende Herbert Blomstedt. Am Ende der 9. Sinfonie von Gustav Mahler verharrte er am Pult der Wiener Philharmoniker eine gefühlte Minute wie erstarrt beim Nachlauschen der Musik, die er gerade in die Welt gezaubert hatte. Man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können. Erst als sich der faszinierende 92-Jährige wieder bewegte, setzte der Beifall ein. Das Publikum kann also, wenn es will …