22. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2019

Fontane aus dem Rechenzentrum

von Wolfram Adolphi

Wanderer, kommst du nach Potsdam, so werde am selben Ort, da sie derzeit eine Kopie des Turmes der einstigen Garnisonkirche aufmauern, eines Verwaltungsgebäudes der DDR-Moderne gewahr, in dem einst das Rechenzentrum des Bezirkes Potsdam residierte, dann ein Dienstleistungszentrum der Landesregierung Brandenburg seinen Platz hatte und heute – unter Beibehaltung des alten Namens – rund zweihundert Künstlerinnen und Künstler und Menschen verschiedensten humanistisch-zivilgesellschaftlichen Engagements in kleinen und größeren Ateliers und Arbeitsräumen zu schöpferischer Tätigkeit versammelt sind. Von diesem durchaus ungewöhnlichen Gebäude aus gelangte in den ersten beiden Wochen des August ein ungewöhnliches Stück Fontane-Erinnerns in die Welt, das – weil es fern in der Provinz und auch fern vom Wallfahrtsort Neuruppin spielte – von der Landespresse und – weil es aus der fernen Landeshauptstadt kam – von den zuständigen Provinzblättern ignoriert wurde, daher keinerlei Rezensionen erhielt und folglich hier besprochen werden muss. Zwar kann dies nicht mehr werbend geschehen, denn es kommen keine Aufführungen mehr, aber sich den Namen der Theatertruppe einzuprägen kann kein Fehler sein.
„Theaterkollektiv Fritz Ahoi!“ nennen sich die Leute. An ihrer Spitze steht Sina Schmidt, eine Dramaturgin, die vom Rechenzentrum aus auch das Studierendentheater „Uniater“ unter ihren Fittichen hat. Und das Stück, um das es geht, trägt den schönen Titel „VON WEGEN“. Das kann man groß oder klein schreiben – von wegen! –, jedenfalls heißt’s in der Unterzeile „Auf der Suche nach Fontanes Brandenburg“.
Diese Suche ist auf Herz und Hirn erfrischende Weise eine ganz andere als die mit lobenden Zitaten über dieses und jenes Kirchlein oder diesen und jenen hübschen Park sich zufriedengebende übliche. „Fritz Ahoi“ nimmt Fontane beim Wort: Er habe, schreibt der Dichter am 26. Februar 1861 an Wilhelm Hertz, „eine Erzählungsweise angenommen, die von dem Erzähler möglichst abstrahiert und den Stoff gibt, wie er sich findet, sei er nun historisch oder landschaftlich“. Und im August 1864 schreibt er „an einen Leser“ den wunderbaren, weit übers Märkische hinausgreifenden Satz: „Wer in der Mark reisen will, der muss zunächst Liebe zu ‚Land und Leuten‘ mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit.“
Und so ging „Fritz Ahoi!“ mit 25 bis 30 Besucherinnen und Besuchern an jedem der sechs Aufführungstage in die Spur. Von Eberswalde aus. Mit einem Nostalgiebus aus dem Jahre 1975. Von der Firma Fleischer in Gera. Denn auch Fontane war lieber mit der Kutsche unterwegs als zu Fuß. Erstes Ziel der mit Live-Musik, Live-Texten und launigen Kommentaren des flott mitspielenden Busfahrers schon vom Start weg spannenden und unterhaltsamen Fahrt ist das Oderbruch-Museum Altranft. Was dort üblicherweise zu sehen ist und veranstaltet wird, kann man im Programm nachlesen. Wir – die Gäste – werden am Eingang des Herrenhauses von Sophie Roeder und Christoph Morais Fortmann in provinzeleganter Abendrobe der vorvergangenen Jahrhundertwende empfangen, und man versammelt sich erst um einen leeren Speisezimmertisch zu ebenso leerer, floskelhafter Plauderei der Gastgeber, um dann im Nebenzimmer einer Dame – gespielt von der Dritten im Bunde, Maru S. Horning – zu begegnen. Im Kimono traumverloren durch den Raum schreitend, schwärmt sie von den 1880er Jahren in Tokio. Da hatte sich ihr Vater – gemeint ist der in Güstebiese (dem heute polnischen Oderbruchdorf Gozdowice) geborene preußische Polizeihauptmann Friedrich Wilhelm Höhn – als Struktur- und Ausbildungsreformer zum „Vater der japanischen Polizei“ gemacht. – Plötzlich die Welt im kleinen Altranft. Und die Preußen in der Welt.
Dann ohne Halt vorbei an jenem Häuschen in Schiffmühle, das Fontanes Vater nach der Trennung von der Mutter bewohnte. Im Bus dazu humor- und liebevolle Briefzitate aus des Sohnes Feder. Weiter zur Ziegelei Altglietzen. Im zum Museum gewordenen Hoffmannschen Ringofen ein Solo-Tanzstück von Liam Maria Wustrack. Qualen, Kämpfe, Zerrissenheit spiegelnder Tanz in gespenstischer, nur schwach beleuchteter Enge. Im Bus Texte zur Nach-Wende-Deindustrialisierung, zur Flucht der Jungen, zum zögernden Wiederkommen.
Schließlich die Villa Hirsch in Eberswalde-Finow. Verfallener Sitz der Industriellenfamilie Hirsch, deren Begründer Gustav Hirsch mit dem Kauf und der beträchtlichen Erweiterung des seit 1698 bestehenden Messingwerkes in den 1860er Jahren entscheidend dazu beitrug, dass Eberswalde Industriestadt wurde. Die Schauspielenden jetzt als Geister der Vergangenheit durchs Haus treibend. Flucht. Quartier der Sowjetarmee. In der DDR für lange Jahre Kindergarten. Jetzt nichts. Und die Reste der Industriegeschichte ringsum. Auch des weltweit bekannt gewesenen Kranbaus der DDR. Dazu die seltsame, wegen maroden Holzbelags unbegehbare, von der alten Weidendammer Brücke in Berlin geerbte schmale, nur für Fußgänger geeignete Teufels- oder Liebesbrücke über den Finowkanal. Das Surreale feiert Urständ. Und im Bus die Brandenburger Werbekampagne „Es kann so einfach sein“.
Finale im Gemäuer einer Gründerzeitfabrik in Eberswalde, in der sich der ROFIN-Gewerbepark entfaltet. „Aus der Monokultur des Rohrleitungsbaus wurde ein buntes Neben- und Miteinander von Industrie, Handwerk, Dienstleistungen und Kultur“, steht im Programm. Auf einer Kantinenbühne spielen Horning und Fortmann mit riesigen Pappmachéköpfen in morbiden Gründerzeitklamotten eine Fontaneske von Julia Schoch. „Es ist nicht leicht. Und meistens will man zurückkehren.“ Mindestens ein Dutzend Mal wird dieser Satz, unterbrochen von allerlei Alltagsbeschreibung, wiederholt, mal schwerfällig klagend, mal laut herausgeschrien. Und zum Ausklang ein Auftritt der bis dahin im Hintergrund wirkenden fabelhaften Julia Fiebelkorn – Gesang, Ukulele, Keyboard, Komposition – und der gleichfalls fabelhaften Natasha Jaffe am Cello.
Zu viel Lob? Zu viel „fabelhaft“? Wenn etwas tagelang nachklingt, sich verstörend und beglückend einprägt, geschaffen von Menschen, die in keinerlei Rampenlicht stehen, dann darf auch Überschwänglichkeit im Besprechen sein. Und die Hoffnung auf neue Projekte. Und auf neue Förderer. Denn „wirtschaftlich“ wird so etwas nicht. „Es ist nicht leicht. Und meistens will man zurückkehren.“