22. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal zwei mordsmäßige Frauen unter machthungrigen Männern …

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Medea, königliche Tochter in Kolchis, türmte hochverräterisch aus ihrer Heimat nach Korinth; der Liebe wegen – Jason. Sie heiratet: ihn, den Staatsfeind, der Krieg führte gegen Kolchis und der mit Medeas hochverräterischer Hilfe das Goldene Vlies raubte. Sie gebar zwei Kinder, wurde aber alsbald verlassen. Wegen Glauke, einer anderen! Wütend vor Eifersucht tötet die Verratene beide Kinder und stürzt die Nebenbuhlerin ins tödliche Verderben – so geht die grausame Saga bei Euripides.
Christa Wolf hat im kalifornischen Künstler-Asyl nach 1990 die klassische Krimi-Saga überschrieben zugunsten Medeas unter dem Titel: „Medea. Stimmen“. Im Repertoire der Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin steht – seit einem Jahr schon – eine Bühnenfassung dieses wehen, etwas eifernden, trotzdem das Publikum packenden Romans; sie ist vom Regisseur Tilman Köhler.
Wolf deutet den uralten Text neu. Bei ihr ist Medea keine Kindsmörderin. Das nämlich, so die Neusicht, haben die siegreichen Korinther dieser selbstbewusst freidenkerischen Frau denunziatorisch angehängt. Weil: Ihr rebellisches, machtkritisches Verhalten erscheint ihnen gefährlich (Medea: „Nenne mir einen, der nach oben gekommen ist, ohne ein Gesetz zu brechen…“). Klaro: Die Kerle wollen durch falsche Denunziation ablenken von den Leichen in ihren Kellern. So macht denn die Macht der Korinther die Fremde, den Flüchtling aus Kolchis, die sperrige Asylantin und (aus verständlichen Gründen) Integrationsverweigerin namens Medea zur Mörderin ihrer beiden Söhne, ihres Bruders und ihrer Nachfolgerin Glauke.
Mit dieser Sicht auf den Mythos zieht Christa Wolf kühn eine Parallele zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung – der siegreiche Westen dominiert den unterlegenen Osten. Sie meint, dass in „Wirklichkeit“ die unschuldige Medea zum Opfer einer Rufmordkampagne der Herren von Korinth wurde, die Medea diskreditieren und somit loswerden wollten. Diese Männer!
Wolfs 1996 erschienener Roman, in dem wechselnde Stimmen das (mythische) Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch kommentieren, wurde vom Regisseur mit Sinn für dramatische Zuspitzungen fürs Theater aufbereitet. Es ist ein Frauenstück, das gegen Herrenmacht angeht. Gegen die Allmacht von Siegern gegen Besiegte. Dazu benutzt die Autorin Mythologisches; spricht von Achronie, also von Zeiten, die nebeneinander stehen, obgleich sie durch Jahrtausende getrennt sind – DDR-BRD-Wirklichkeiten gespiegelt im Medea-Mythos.
Der Regisseur dirigiert feinfühlig unter behutsam sich steigernder Spannung die Wolfsche Geschichte gegen die Kerle, gegen ihre fatale Zuschreibungsmacht – Maren Eggert als Medea hat ausreichend Gelegenheit für rabiat emanzipatorische Verteidigungsauftritte. Die böse Männerwelt bleibt im Hintergrund, hat vergleichsweise wenig zu sagen; was anderseits wirkt, als nähmen sich die Herren in zynischer Bescheidenheit zurück und lassen die Weiber einfach lamentieren.
Das geschieht vornehmlich mit den Füßen im Wasser – das Schwarze Meer (Temperatur 32 Grad) füllt den Bühnenboden. Macht Effekte, nervt aber auf Dauer. Wie das ganze gegen Männerwahn und Weiberbashing gerichtete Erinnerungsstück mich nicht wirklich packt. Kann sehr wohl sein: Männer sind Schweine; Politik ist verlogen. Und die Frauen? Alle immer nur Opfer, trotz Aufbrausens und Leidens? Die Autorin bejaht es; die Regie stellt es dahin.

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Schon am Anfang gleich das Ende: Die Prostituierte Lulu wird ekstatisch erstochen vom Frauenmörder Jack The Ripper. So will es Regisseur Stefan Pucher in der Volksbühne Berlin mit seiner avanciert zeitgenössischen Umformung von Frank Wedekinds „Monstretragödie“ über Aufstieg und Fall der männerverschlingenden Lustmaschine Lulu.
Die nun ist eine bitter-böse Collage aus Melodram und Dreigroschenroman, aus Farce, Kitsch, Komik, Trash und Tragik; ist zusammengesetzt aus übel wuchernden Männerfantasien, aus weiblicher Selbstbestimmung, die in grauenvoller Selbstvernichtung gipfelt, sowie aus den beiden Wedekind-Dramen „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“. Und es ist ein nun schon gut hundert Jahre altes, schauerlich zugespitztes Aufklärungsstück über sozial wie sexuell bestimmte Abhängigkeiten, über Macht- und Ohnmacht-Verhältnisse zwischen Mann und Frau sowie bürgerliche Doppelmoral.
Freilich, das bizarr Provokante von 1913 ist heutzutage verflogen. Dennoch spiegelt die mit bürgerlichem Horror aufgeladene Geschichte allzeit Gültiges über das vertrackte Gegen- und Miteinander der Geschlechter.
Aber diese uralte, ewig neue Geschichte interessiert Pucher nicht. Deshalb zeigt er anfangs artig Wedekinds finale Messerstecherei. Doch dann ist Schluss mit dem Alten. Jetzt folgt „Lulu“-neu von Stefan Pucher, bislang eher bekannt als Fachmann fürs Popkulturelle und Psychedelische als für Mann-Frau-Problematiken. Der will nun, segelnd auf modischer Welle, das vermeintlich vorgestrige Ding „aus der alten, von Männern für Männer gemachten Klapperkiste Theater“ (so steht’s im Programmheft) zurechtstutzen im Geist von MeToo und neuzeitlichem Feminismus. Er will eine Art Diskurs über nichts weniger als ein alternatives Bild von Mann und Frau.
Also lässt er die „Lulu“-Story beiseite und füllt seine zwei Theaterstunden mit massenhaft Material aus der einschlägigen Bibliothek; beispielsweise ausführliche, von der Rampe herunter gebrüllte Zitate aus „King Kong Theorie“, einem radikal hedonistischen Manifest der französischen Punk-Feministin Virginie Despentes, aus dem Berliner Kunstszene-Porno „M“ von Anna Gien und Marlene Stark oder aus „Gespenster meines Lebens“ von Mark Fisher. Dazu effektvoll flimmernde Videostandbilder sowie schrille Popmusik – immerhin glamouröse Show-Acts zur Auflockerung des Vorlesungsbetriebs.
Und zwischendurch immer mal wieder ein paar Sätze aus der Wedekind-Story, die natürlich so kaum noch nachvollziehbar wird. Ahnungslose gucken in die Röhre. Aber auch sonst. So sehr sich die Protagonisten – Lilith Stangenberg in der Titelrolle – sportiv auch abrackern, es langweilt.
Da wird immerzu dozierend etwas ausgestellt, wobei man nicht immer genau weiß, wo man es hinstellen soll im Kopf. Kann man ja machen, sogar in der alten Klapperkiste Theater. Doch wenn dort so gut wie überhaupt nichts mehr gespielt, sondern sich immer nur gegenseitig schrill monologisch angegangen wird (Krach als Ersatz für Intensität), kommt kein Theater zustande. Vielmehr gähnt da der Puchersche Demonstrationsbetrieb. Der in seinem blinden Eifer – auch das noch! – das Durchexerzieren vom neuen Bild, vom neuen Beziehungsgeflecht zwischen Mann und Frau so ziemlich aus den Augen verliert. Doch warum dann der ganze Betrieb? Bleibt es doch beim althergebrachten Auge um Auge, Zahn um Zahn; modisch kostümiert, performativ aufgemischt. Nix Neues also.
Oder doch. Puchers innovatives Finale geht so: Lulu und Geschwitz zücken die Knarre, knallen die Männer ab und stürzen mit gezückter Waffe als freie Radikale von der Bühne raus ins Freie zwischen die Autos auf der Rosa-Luxemburg-Straße. – Erst murkst der Kerl das Weib ab, später umgekehrt. Ist das der Fortschritt? Oder Feminismus? Oder was?