von Erhard Crome
In der postmodernen Welt von heute wird immer mal wieder diskutiert, ob an der Schule überhaupt noch Geschichte gelehrt werden sollte. Bisher wurde das mit „im Prinzip, ja“ beantwortet. Aber viel hängen bleibt oft nicht. Am 11. August interviewte Caren Miosga, Fernsehmoderatorin von den ARD-Tagesthemen, den SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Es ging wieder einmal um die leidige Frage des SPD-Vorsitzes. Bei den Eingangsfragen wollte sie auf frühere Vorsitzende großen politischen Formats verweisen und nannte namentlich August Bebel, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Peinlich nur, Schmidt war nie Vorsitzender der SPD, sondern „nur“ Bundeskanzler, während Brandt Parteivorsitzender geblieben war – was Schmidt übrigens später bedauerte, schon deshalb, weil Brandt am Ende seiner (Schmidts) Politik der Stationierung der NATO-Mittelstreckenraketen in den Rücken gefallen war.
Ganz ähnlich, frohgemut und ohne Sachkenntnis – früher machten sich Journalisten sachkundig, bevor sie etwas aufschrieben oder in die Kamera redeten – meinten etliche deutsche Journalisten, dass nach den Amokläufen von El Paso und Dayton in den USA endlich das „staatliche Gewaltmonopol“ durchgesetzt werden müsste. Dieses Gewaltmonopol ist in der Tat seit dem 16. Jahrhundert ein Grundattribut der staatlichen Souveränität und des abendländischen Staatsverständnisses.
Allerdings mit einer Ausnahme, den USA. Dort gibt es den Zusatzartikel (Amendment) 2 der Verfassung, vom Kongress vorgeschlagen am 25. September 1789 und in Kraft seit dem 15. Dezember 1791. Darin heißt es: „Da eine gut organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu führen, nicht beschränkt werden.“ Die ersten zehn Zusatzartikel, die alle dieses Datum tragen, sind die „Bill of Rights“, der Grundrechtekatalog der USA, der bereits auf Beschluss des ersten Kongresses erarbeitet wurde. Die „Verfassungsväter“ der USA kannten die britischen und französischen Theorien zur Staats- und Gesellschaftstheorie jener Zeit und etliche von ihnen fürchteten nach Inkrafttreten der Verfassung (am 21. Juni 1788) eine zu starke Position des Bundes, sahen die föderale Struktur als nicht ausreichend für ein Gegengewicht an und wollten deshalb eine unmittelbare Stärkung der Position der Bevölkerung sichern. Die anderen Grundrechte sind die üblichen: Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Rechte von Angeklagten vor Gericht. Hier gehört auch das Recht auf Waffenbesitz dazu, seit langem umstritten, angesichts der sich mehrenden Amokläufe um so mehr.
Der Oberste Gerichtshof hatte in einem Urteil von 1939 abgeleitet, dass es allein um den Besitz von Waffen im Zusammenhang mit einer organisierten Miliz gehe. In einem Urteil von 2008 wurde jedoch entschieden, dass dieser Zusatzartikel ein Recht auf individuellen Waffenbesitz garantiert. Diese Auslegung dürfte dem Wortlaut von 1789 eher entsprechen. Das heißt, die Grundposition, dass es in den USA ein staatliches Gewaltmonopol in dem Sinne, dass die Bevölkerung im Normalfall unbewaffnet ist, nicht gibt.
Woodrow Wilson beschrieb dies – noch bevor er Präsident der USA wurde – vor über einhundert Jahren so: Aus einem England, das ein gesetzlich geordnetes Staatswesen mit hoher geistiger Kultur war, kamen die ersten Siedler nach Nordamerika, hatten hinter ihrem Rücken das Meer und vor sich eine Wildnis, die sie erobern wollten. Sie und ihre Nachkommen mussten lernen, sich hier zu behaupten. Als Kennzeichen „echter Amerikaner“ beschreibt Wilson: „Der Knall der Peitsche und der Gesang des Fuhrmanns, das Keuchen der Bootsleute, die ihre schweren Flöße auf den Flüssen vorwärts schoben, das fröhliche Gelächter am Lagerfeuer und der Schall von Menschentritten in stillen Forsten wurden die charakteristischen Laute unserer Atmosphäre.“ Es entstand ein harter Menschenschlag, „unwegsame Urwälder waren das Paradies ihrer Unternehmungslust, der Knall der Büchsen war ihren Ohren Musik, ihr Leben begann mit jedem Morgen von neuem, ihr Handschlag war derb und freimütig und feinfühlend ward ihr Finger nur, wenn er am Abzug des Gewehres lag.“ Kritisch wäre heute anzufügen (Wilson, bekannt als Initiator des „Völkerbundes“ und konzeptionell auch der Gründung der UNO, war ein Südstaatler, der die Rassendiskriminierung für eine natürliche Angelegenheit hielt), dass es diese Menschen waren, die nicht nur auf Bären und Bisons, sondern auch auf Indianer schossen und Schwarzafrikaner als Sklaven hielten. Gleichwohl hatte Wilson Recht, wenn er schrieb, dass die USA „nicht durch Staatsmänner, sondern durch Viehtreiber und Waldläufer“ geschaffen wurden, „deren Hände Axt, Peitsche und Büchse führten“. – Keine Hand ohne Büchse.
Es waren solche Männer, die 1775–1783 den Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien führten und schließlich die unabhängigen USA errichteten. Die ohnehin bewaffneten Männer schufen zunächst Milizen im Kampf gegen die britischen Truppen, konnten diese jedoch erst wirklich besiegen, nachdem sie eine eigene Kontinentalarmee unter George Washington geschaffen hatten, mit Unterstützung ausländischer Militärs, wie des Generals von Steuben aus Preußen und des Marquis de Lafayette aus Frankreich. Die Revolutionsgeneration der Politiker der USA hegte jedoch große Vorbehalte gegen stehende Heere, die Kontinentalarmee wurde nach dem Krieg wieder aufgelöst und das verbliebene Militär dauerhaft einer zivilen Kontrolle unterstellt – die bis heute anhält. Das heißt aus der Sicht von 1789, als die Bill of Rights erarbeitet wurde, war die ständige Armee die Ausnahme, während die Miliz als Zusammenfassung der „normalen“, ohnehin bewaffneten Bürger Normalität war.
Da die Verfassung der USA seit Anbeginn gilt und „nur“ durch die inzwischen 27 Amendments ergänzt wurde, hat sich an der Rechtslage ungeachtet der angeschwollenen und verstetigten Militärkapazitäten der USA nichts geändert – es gibt in privaten Händen Millionen von Waffen. Der britische Journalist Tim Marshall sieht das strategisch positiv und schrieb in seinem Buch „Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt“ euphorisch, die USA verfügten nicht nur über eine einzigartige strategische Tiefe und „großartige“ Streitkräfte. „Ebenso bedeutsam ist, dass heutzutage jeder, der dumm genug wäre, einen Einmarsch in die USA ins Auge zu fassen, bald darüber nachdenken müsste, dass es dort Hunderte Millionen Schusswaffen gibt, die einer Bevölkerung, die ihr Leben, ihre Freiheit und ihr Streben nach Glück sehr ernst nimmt, direkt zur Verfügung stehen.“ Abgesehen davon, dass niemand zu sehen ist, der die USA besetzen wollte – so kann man sich das Waffenproblem in den USA natürlich auch schönreden. Vielleicht ist es aber auch ein Relikt von 1789.
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