von Hubert Thielicke
Am 2. August endete der INF-Vertrag, der nicht nur zur Abrüstung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen zweier nuklearer Großmächte geführt, sondern auch in Europa zu militärpolitischer Entspannung beigetragen hatte. Eine jetzt noch nicht abzuschätzende Phase militärischer Spannungen beginnt.
Russlands Präsident Putin erklärte am 5. August, sein Land werde solange keine derartigen Raketen in bestimmten Regionen stationieren, bis die USA das tun. NATO-Generalsekretär Stoltenberg ließ verlauten, sein Bündnis habe „nicht die Absicht, neue landgestützte Nuklearraketen in Europa zu stationieren“. Eine Formulierung, die so manches offen lässt. Da er zugleich davon sprach, die NATO wolle an ihren „konventionellen Fähigkeiten“ arbeiten, sind also zumindest konventionell bestückte Raketen nicht auszuschließen. Einerseits werden weitreichende präzisionsgelenkte konventionelle Raketen heute von Militärs als wichtiges Mittel betrachtet, um Verteidigungseinrichtungen wie Flugabwehrwaffen, Radar und Kommandoposten der Luftverteidigung auszuschalten; andererseits können konventionelle Raketen mittels Austausch der Sprengköpfe relativ schnell in nukleare verwandelt werden.
Jenseits aller eifrigen Beschuldigungen angeblicher Vertragsverletzungen durch Moskau wurde deutlich, worum es den Kreisen um Präsident Trump wirklich ging: Sie sind schon lange bemüht, sich von den INF-Restriktionen zu befreien, unabhängig von der Frage der Vertragseinhaltung durch Russland, wie Ankit Panda am 5. August in The New Republic schrieb. „Viele sehen die USA in einem neuen ‚Großmacht-Wettbewerb’ mit China und Russland und drängen auf Entscheidungen der USA, die eher auf neuer Technologie und neuen Kapazitäten als wohlüberlegten Strategien beruhen. Die Trump-Administration hat bereits zwei National Defense Authorization Acts unterzeichnet, die Gelder zur Entwicklung neuer INF-Raketen zur Verfügung stellen.“ Mit anderen Worten: zunächst die Waffen beschaffen, eine Strategie wird sich dann schon finden.
Ein Bericht der Zeitung Breaking Defense vom 22. Oktober 2018 machte unter Berufung auf bis dahin unveröffentlichte Pentagon-Dokumente deutlich, dass bereits seit 2013 an der Planung von Waffensystemen für die Zeit nach dem INF-Vertrag gearbeitet wurde, darunter die Ausdehnung der Reichweite taktischer Waffensysteme und die Modifizierung bodengestützter Flügelraketen beziehungsweise ballistischer Mittelstreckenraketen. Immerhin ließen US-Offizielle bereits verlauten, dass die USA in den nächsten Wochen eine landgestützte Flügelrakete und im November eine ballistische Mittelstreckenrakete testen würden, wie Reuters am 3. August berichtete.
Die Kritik, damit würde ein neues Wettrüsten entfacht, versuchte der neue US-Verteidigungsminister Mark Esper abzuwiegeln: Es handele sich doch nur um „proaktive Maßnahmen“. Die USA benötigten nun mal ein Potenzial für die europäische und die asiatisch-pazifische Region. Auf seiner am 2. August angetretenen Reise in letztere Region ließ er keine Zweifel an seinem Ziel: die Stationierung bodengestützter Mittelstreckenraketen „eher früher als später“. Damit stieß er allerdings bei engen Verbündeten wie Australien, Japan und Südkorea auf wenig Gegenliebe. Australien werde sein Territorium nicht für die Stationierung landgestützter Mittelstreckenraketen zur Verfügung stellen, erklärten unisono Premierminister Scott Morrison und Verteidigungsministerin Linda Reynolds. Immerhin sieht sich das Land hier in einem Interessenkonflikt zwischen seinem engsten militärischen Verbündeten und seinem größten Handelspartner. Bereits im Vorfeld des Besuchs ließ Südkoreas Regierung erklären, dass nicht beabsichtigt sei, die Stationierung von US-Raketen auf dem Territorium Südkoreas zu diskutieren. Die Frage sei intern nicht beraten worden, es gebe auch keine Pläne dafür. Sehr zurückhaltend äußerten sich japanische Politiker. Immerhin ist mit massivem Widerstand der Öffentlichkeit gegen US-Raketen zu rechnen. Verteidigungsminister Takeshi Iwaya sagte lediglich, Esper habe ihm mitgeteilt, die USA würden die Diskussion über die Stationierungsorte noch beginnen.
Erfolge sehen anders aus. Jedenfalls erklärte Esper nach seinen Gesprächen, er habe niemanden nach der Stationierung der Raketen in Asien gefragt. Man sei ja noch weit davon entfernt, denn es werde noch einige Jahre dauern, bis es entsprechende Raketen gebe. Außenminister Pompeo sekundierte: Washington werde an seinen Plänen festhalten, was zwar ein langer Konsultationsprozess sein könne, aber man werde nicht zögern, wenn die Stationierung im strategischen Interesse der USA und Verbündeter sei. Beide wie auch Trumps Sicherheitsberater Bolton begründeten die angestrebte Stationierung von Mittelstreckenraketen in Asien mit der „chinesischen Gefahr“. Das sei eine Verteidigungsmaßnahme gegen Chinas Arsenal, das die US-Streitkräfte wie auch ihre Verbündeten bedrohe.
Die von Esper besuchten Länder mögen viele Gründe haben, das Danaergeschenk aus Washington abzulehnen. Vor allem dürfte es um das Verhältnis zu China, aber auch Russland gehen. Sein Land werde Gegenmaßnahmen ergreifen, warnte Fu Cong, Chef der Abteilung für Rüstungskontrolle im chinesischen Außenministerium. Japan und Südkorea sollten realistisch bleiben, war in der chinesischen Zeitung Global Times zu lesen. Ihre Beziehungen mit China und Russland verliefen bisher weitgehend reibungslos, die wirtschaftliche Kooperation wachse. Es wäre ein Albtraum, wenn sie den USA in einen neuen Kalten Krieg folgen würden. Eine Raketenstationierung könnte auch zu engeren Verbindungen zwischen Peking und Moskau führen, die ihre strategische Koordinierung stärken und gemeinsam den US-Plänen widerstehen würden. Dass es China hier durchaus ernst meint, zeigte 2016 die Stationierung des US-Raketenabwehrsystems THAAD durch Südkorea. China betrachtete vor allem dessen Radaranlagen als schädlich für seine Sicherheit und schränkte die Wirtschaftsbeziehungen ein. Erst unter der Nachfolgeregierung von Moon Jae-in verbesserten sich die Beziehungen wieder.
Die US-Stationierungspläne bedrohen die Sicherheitslage in der asiatisch-pazifischen Region. Das gilt in gewisser Weise auch für einige rüstungskontrollpolitische Abmachungen. So dürfte für Australien und Neuseeland der Vertrag von Rarotonga (1985) über eine nuklearfreie Zone im Südpazifik, dem beide Länder neben 11 weiteren südpazifischen Inselstaaten angehören, eine Rolle spielen. Er sieht zwar nur das Verbot von „nuklearen Sprengvorrichtungen“ vor und lässt die Frage der Trägermittel offen, aber da es um nuklearfähige Raketen geht, könnte der nuklearfreie Status gefährdet werden. Zu berücksichtigen wäre auch der Vertrag von Bangkok über eine kernwaffenfreie Zone in Südostasien (1995), dessen Mitglieder alle 10 ASEAN-Staaten sind, darunter Thailand, das von den USA als mögliches Stationierungsland betrachtet wird.
Im Hinblick auf eventuelle russische Gegenmaßnahmen gegen eine Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa brachten russische Militärexperten die Stationierung von Raketen in Kuba oder Venezuela ins Spiel. Allerdings könnte das auch Probleme hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zum Vertrag von Tlatelolco über eine kernwaffenfreie Zone in Lateinamerika und der Karibik (1967) schaffen.
Wie steht es aber um Europa? Die US-Mittelstreckenwaffen würden dort stationiert werden müssen, um gewissen strategischen Wert zu haben, so Kingston Reif, Direktor für Abrüstung der US-amerikanischen Arms Control Association. Allerdings habe bisher kein NATO-Mitglied erklärt, dass es neue US-Raketen stationieren wolle; selbst Polen habe klar gemacht, dass eine Stationierungsentscheidung vom Bündnis gemeinsam getroffen werden müsste. Insgesamt schätzt Reif ein, dass Entwicklung und Stationierung dieser Raketen militärisch unnötig sei und zu schwierigen und strittigen Gesprächen mit und unter den Verbündeten führen werde. Außerdem würden Russland und China zu Schritten gezwungen, welche die Bedrohung der USA und ihrer Verbündeten erhöhten.
Schlagwörter: asiatisch-pazifische Region, Europa, Hubert Thielicke, INF-Vertrag, landgestützte Kurz- und Mittelstreckenraketen, Stationierung von Mittelstreckenraketen, Wettrüsten