22. Jahrgang | Nummer 15 | 22. Juli 2019

Meinungsverschiedenheiten

von Wolfgang Schwarz

Ein Beitrag im Wochenend-Magazin der Berliner Zeitung vom 1./2. Juni 2019 – Elise Landschek: Picknick über dem Gräberfeld – gab Veranlassung zu einem Leserbrief an die Redaktion des Blattes:

„Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn Sie es darauf anlegen, dass auch ich mein Abo der BERLINER kündige, dann klittern Sie nur munter weiter die Geschichte!
In der Unterüberschrift – die zu meinen Zeitungszeiten in der Regel nicht vom Autor stammte, sondern von der Redaktion – zum […] Beitrag heißt es: „[…] an den Stränden der Normandie, wo mit der Invasion amerikanischer, kanadischer und britischer Truppen der Zweite Weltkrieg […] seine entscheidende Wendung (Hervorhebung – W.S.) nahm.“
Die Invasion begann am 6. Juni 1944. Da hatte der Zweite Weltkrieg seine entscheidende Wendung bereits anderthalb Jahre hinter sich – Anfang 1943 mit der deutschen Niederlage in Stalingrad. Auch die nachfolgende Schlacht am Kursker Bogen hatte das Ihrige dazu beigetragen.
Das wusste in der DDR jedes Kind. Nicht so heute, wo das ab 1949 von alten Kameraden geprägte Geschichtsbild der Bundesrepublik, das diese Fakten durchweg unterschlug, offenbar selbst in Ihrer Redaktion fröhliche Urständ feiert …
Und noch eines zur oben genannten Unterüberschrift: an der Invasion nahmen auch freifranzösische und polnische Einheiten teil.
Mit besten Grüßen,
Dr. Wolfgang Schwarz“

Daraufhin antwortete der Magazin-Chef der Berliner Zeitung:

„Sehr geehrter Herr Schwarz,
ich melde mich als Magazinchef und verantwortlicher Redakteur der Reportage aus der Normandie und möchte mich recht herzlich für Ihren Leserbrief bedanken. Ich habe ihn mit großem Interesse gelesen.
Allerdings bin ich der Meinung, dass die Formulierung, mit der Invasion in der Normandie habe der Zweite Weltkrieg ‚seine entscheidende Wendung‘ genommen weder den Einsatz und das Opfer der Russen diskreditiert – noch behauptet sie, dass die Nazis ohne das Eingreifen amerikanischer, kanadischer und britischer Truppen den Krieg gewonnen hätten.
Entscheidend war die im Übrigen von Stalin ungeduldig herbeigesehnte Invasion gleichwohl, denn sie beendete den Krieg innerhalb weniger Monate – im Oktober standen die Amerikaner am Rhein. Bis es die Rote Armee zum Rhein geschafft hätte wären weitere Jahre vergangen, und den Weg dahin hätten weitere Hunderttausende von Toten gepflastert. Überhaupt wäre der Krieg ein anderer gewesen.
Ganz abgesehen davon, dass die Weltgeschichte einen anderen Verlauf genommen hätte – auch in diesem Zusammenhang ist die Formulierung von der ‚entscheidenden Wende‘ zu verstehen. Ich zitiere da gerne den Historiker Georg Schild von der Universität Tübingen: Ohne den D-Day hätte es wohl keine ‚demokratische Bundesrepublik gegeben‘. Ähnlich sieht es auch der Militärhistoriker Peter Lieb: ‚Die Alliierten haben Deutschland und Westeuropa damals nicht nur von einem verbrecherischen Regime befreit, sondern auch eine neue totalitäre Herrschaft dort verhindert.‘
Und wie gesagt und trotz allem: Die russischen Opfer werden durch all das kein bisschen geschmälert – dazu empfehle ich auch die Kolumne von Götz Aly heute, die ich im Anhang beigefügt habe.
Ich hoffe, Sie bleiben uns doch gewogen. Wir würden uns freuen.
Herzlichen Gruß,
Christian Seidl“

Der Empfehlung im Hinblick auf den auch von uns hoch geschätzten Götz Aly bin ich gern gefolgt.
Sein Kommentar beginnt so: „Ich finde die Ignoranz, die Gefühlsrohheit und die Verlogenheit, die unsere führenden Politiker fast ausnahmslos Russland gegenüber an den Tag legen, widerwärtig. Wie Sie, liebe Leser wissen, äußere ich mich im Allgemeinen mäßigend. Aber die 75-Jahr-Feiern zum D-Day, also zur Landung der Westalliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, zwingen zu deutlichen Worten. Präsident Wladimir Putin, und damit Russland, war nicht eingeladen worden und die meisten deutschen Medien taten so, als habe erst an diesem Tag die Befreiung Europas vom deutschen Terror begonnen.“

Zugleich ein schönes Beispiel für Meinungspluralismus in der Berliner Zeitung! Und im Übrigen wäre es auch verwunderlich, wenn sich Ignoranz, Gefühlsrohheit und Verlogenheit gegenüber Russland auf unsere führenden Politiker beschränkte.