von Klaus Hammer
Sie waren nach Corinths Worten die „anarchischen Elfer“, die 11 nach Modernität und Weltoffenheit strebenden Maler, die 1892 die Gründung einer autonomen Künstlergruppe in Berlin vollzogen. Sie wollten nicht mehr den auf Repräsentation und Idealität ausgerichteten Themen der Gründerzeit huldigen, sondern juryfrei und in nur kleinen Ausstellungen Werke weniger Künstler zeigen. Diese „Vereinigung der XI“ wurde die erste gegen die offizielle Akademiemalerei ausgerichtete Künstlervereinigung. Unter dem Eindruck von Künstlerpersönlichkeiten wie Max Liebermann, Walter Leistikow und Franz Skarbina sahen sie sich zwischen Naturalismus, Impressionismus und Symbolismus gestellt. Auch Ludwig von Hofmann und Max Klinger schlossen sich der Vereinigung an, die sich als Sammelbecken der neuen Kunstauffassungen verstand. Das Interesse der XI war zwar verschiedenartig (seit der zweiten Ausstellung 1893 zeigten Hofmann, Leistikow und einmalig Friedrich Stahl auch angewandte Kunst und entsprechende Entwürfe), aber jeder experimentierte mit neuen Methoden, und im Berlin der frühen 90er Jahre galten sie als Repräsentanten der modernen Kunst. Die Künstlergruppe wurde in den sieben Jahren bis zu ihrer Auflösung 1899 als private Künstlerinitiative mit öffentlicher Wirkung zum Vorläufer der Berliner Secession und zum wichtigen Exponenten der Moderne im Berliner Ausstellungswesen.
Erstmals wird nun im Bröhan-Museum die bahnbrechende Tätigkeit der Vereinigung der XI mit einer Präsentation von über 30 Werken gewürdigt, die damals in deren Ausstellungen gezeigt wurden. Dort, wo die authentischen Arbeiten nicht mehr zu beschaffen waren, sind sie in einzelnen Fällen durch andere aus demselben zeitlichen und thematischen Umkreis der Maler ersetzt worden. Seinerzeit von den einen als „Schmierereien“ und „Verirrungen“ diffamiert, von den anderen als Durchbruch der Moderne gefeiert, erreichten es die ausgestellten Werke der Elfer-Gruppierung, dass die provinzielle Eingeschränktheit der Berliner Kunstwelt durchbrochen und die Kunstöffentlichkeit polarisiert wurde.
Zur Eröffnungsausstellung der Elf reichte Liebermann sein Bild „Alte Frau mit Ziegen“ ein und zudem drei Porträts, dessen Möglichkeiten er damals erst zu erproben begann. Diese Ausstellung, so hieß es damals hämisch in der „Kunstchronik“, habe „ein so gründliches Fiasko gemacht, dass der Bericht über die erste dieser Ausstellungen voraussichtlich zugleich ihr Nekrolog sein wird“. Liebermann übe seine „die Farben förmlich mit dem Spachtel fest und patzig hinstreichende Manier nicht nur an Kuhhirten, Schafhüterinnen, Netzeflickerinnen und alten Weibern“, sondern habe sich nun auch auf die Bildnismalerei geworfen. Sein erstes im Auftrag geschaffenes Bildnis des Hamburger Bürgermeisters blieb 10 Jahre im Verborgenen, bevor es ausgestellt werden konnte.
Doch bereits diese erste Gruppenausstellung der XI wurde zu einem vieldiskutierten Ereignis. Es war wohl die Kombination aus psychologischer Eindringlichkeit und Distanz, die so an den Bildnissen Liebermanns überzeugte. Nicht in Paris, sondern in Amsterdam hatte er seine „Sonnenflecken“-Szenarien erprobt. In seinen zunächst noch naturalistischen Bildern bäuerlichen Lebens, in denen Lichtführung und lockere Pinselschrift aber bereits impressionistischen Akzente setzten, verarbeitete er seine Wertschätzung Millets und seine Liebe zu Holland. Ende der 1890er Jahre wurde seine Malerei heller und farbiger. Erholungssuchende Stadtbürger, vornehme Damen in züchtiger Badekleidung, ausgelassen im Wasser tobende Jungen und Reiter mit ihren Pferden bevölkern die Strände von Karwijk und Noordwijk. Seine Auseinandersetzung mit der Kunst Manets und der französischen Impressionisten, wurde durch den Einfluss Hollands gefiltert und geprägt.
Leistikows Begabung für den streng komponierten Landschaftsausschnitt zeigt schon das Bild „Ziegeleien am Wasser“ (1887), so dass es einer Aufwertung durch Figuren gar nicht bedurfte. Bei dem Motivkomplex Boote am Wasser hat er seinen Standort so ausgewählt, dass er gegen das Licht arbeiten musste und die wenigen Motive des Bildes im Schatten liegen. Anregungen aus der Stilkunst und vom japanischen Farbholzschnitt führten ihn dann zu einer betont formorientierten und stilisierten Kunst. Als Maler der Seen- und Kiefernlandschaft wurde er berühmt. Schwingende, weit ausholende Silhouetten trennen Hell- und Dunkelzonen voneinander. Im Vordergrund von „Schlachtensee (Grunewaldlandschaft)“ (1898) das langgestreckte Oval des Wassers, der dahinterliegende Kiefernwald wird von der Nachmittagssonne so angestrahlt, dass die Kronen und Stämme der Bäume hell aufleuchten. Kaiser Wilhelm II. verachtete allerdings Leistikows Berlin-Landschaften und schimpfte: „Er hat mir den ganzen Grunewald versaut“.
Franz Skarbina ist neben Lesser Ury der wohl bedeutendste Maler der Metropole und des nächtlichen Lebens in Berlin. Sein Schaffen zeigt einen weiten Spannungsbogen zwischen der von Menzel und den holländischen Realisten beeinflussten Historien- und Genremalerei und den herausragenden, stimmungsvollen Landschaften, dem urbanen Alltagsleben, der intimen Atmosphäre gepflegter Bürgerlichkeit und den effektvollen, nächtlichen Großstadtszenerien. Als ein Hauptwerk des deutschen Impressionismus gilt seine „Kurpromenade in Karlsbad“ (1890–94): Eine unbeschwert flanierende Gesellschaft wird in einem sinnlich erfahrbaren Rausch von Licht, Luft und Farbe erfasst.
Für Ludwig von Hofmann waren die sich unter der Last der Früchte beugenden Apfelbäume und Weinstöcke, die über den Bach schwebende Libelle, die in der Frühlingslandschaft umher tollenden Knaben, die sich zum Bade in die Meeresfluten stürzenden Jünglinge, die sinnenden oder tanzenden Frauen- und Mädchengestalten Phänomene und Symbole der Expansionskraft, der Üppigkeit organischer Natur, des rhythmisch gesteigerten Lebensgefühls, aber auch des Geheimnisses, des Meditativen vor der Natur. Seine Sehnsuchts- und Bekenntnisbilder wurden zum Schauplatz eines neuen Zeitalters, zu einem Garten Eden, in dem handlungs- und konfliktlose Geselligkeit, Eintracht, Heiterkeit und Sinnenfreude herrschen. Das Schwebende, das in der impressionistischen Ästhetik im Mittelpunkt steht, ist für immer in reine Zuständlichkeit erstarrt.
Max Klingers Marmorskulptur „Kassandra“, die leidgeprüfte antike Priesterin als Halbfigur, in der das elementar Psychologische betont ist, war ein Höhepunkt im Ausstellungsjahr 1895 der XI. Die mythische Hülle diente Klinger dazu, den aufgeworfenen Lebensfragen eine gleichnishafte Form und Überzeitlichkeit zu verleihen.
Einzigartig und außergewöhnlich waren Hans Baluscheks Bilder mit seinen Darstellungen aus der Arbeitswelt und Großstadtszenen. Als Gast der XI stellte er 1998 das Aquarell „Neue Häuser“ (1895) aus, das ohne Schönung einen monotonen und menschenleeren Häuserkomplex in Fabriknähe zeigt und einen Vorgriff auf die Neue Sachlichkeit darstellt. Sein Freund Martin Brandenburg wurde vor allem durch seine phantastischen Gemälde und märchenhaften Landschaften bekannt. Und mit Dora Hitz trat eine bereits erfolgreiche Frau den XI bei; ihre Figurenbilder, weiblichen Bildnisse sind teilweise im Stil des Symbolismus gemalt.
Die vorzeitige Schließung der spektakulären Edvard-Munch-Ausstellung 1892 durch konservative Kreise mit dem sich dagegen formierenden Widerstand gilt bis heute als Auftakt der Moderne in Berlin. Die Refüsierung der großen Abendlandschaft am Grunewaldsee von Leistikow durch den Kaiser – wie heute bekannt ist, handelte es sich um eine Falschmeldung der Presse – wurde 1998 Anlass zur Gründung der Berliner „Secession“, die Autonomie, Freiheit und die Möglichkeit versprach, den nachstrebenden Kräften ein qualitätsvolles, individuelles Forum zu bieten. Liebermann und seine Kollegen holten die besten und fortschrittlichsten Maler nach Berlin, so dass die Secession richtungweisend für die Malerei des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland wurde. Doch Zerwürfnisse und Spaltungen führten 1914 zur Gründung einer „Freien Secession“, während die Zurückbleibenden unter Corinth die „Rumpf-Secession“ weiterführten.
In der Vorläuferorganisation der Berliner Secession, der Vereinigung der XI, ist ein weitgehend unbekanntes, aber doch bedeutsames Kapitel nicht nur der Berliner Kunstgeschichte aufgeschlagen worden.
Skandal; Mythos! Moderne! Die Vereinigung der XI in Berlin, Bröhan-Museum Berlin bis 15. September, Schloßstr. 1a, 14059 Berlin, Di–So 10–18 Uhr; Katalog 29,00 Euro.
Schlagwörter: Bröhan-Museum, Impressionismus, Klaus Hammer, Max Liebermann, Vereinigung der XI, Walter Leistikow