22. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Maximen und Moritzen, ein hässliches Entlein sowie ein Striese mit Stauneaugen …

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Volker Braun, bekennender Sachse aus Dresden. Kindheit zwischen Trümmern, schon zeitig besorgt um seinen aufrechten Gang: „Wir stehen an der Abbruchkante der Geschichte. Unsere Erfahrung: Verwerfung.“
Im DDR-Sozialismus als Sozialist verteufelt, als Dichter gehätschelt und zugleich immer wieder verboten. Kein Wunder, denn – „Landarbeit: Zweifel säen.“ Und: „Sei unparteiisch: halte dich nicht heraus. Durchdringe die Fronten.“
Seine durchdringenden Theaterstücke werden heute nur noch selten gespielt, was weniger mit ihrer Haltbarkeit zu tun hat als mit dem Zeitgeist, der in unseren Dramaturgien herrscht. Da tut man sich schwer mit Brauns geschichtsphilosophisch grundiertem Pathos, seiner an Klassikern geübten Sprache (Schiller, Hölderlin, Brecht). – Doch wie wär‘s trotzdem mit dem ketzerischen Stück „Lenins Tod“ aus den 1980er Jahren, seinerzeit selbstverständlich offiziell verteufelt. Denn das war gefährliches Denken. Stellt es doch die gesamte Ostblock-Staatsdoktrin infrage, nach der die kommunistischen Parteien zu herrschen haben, ganz einfach, weil sie die (selbst erklärten) Sieger der Geschichte sind. Bleibt die nicht uninteressante Frage nach Siegern heutzutage …
Freilich, ein weiträumiger Geist wie Braun hat auch die Sprache allein als Bühne. Natürlich schreibt er weiter. Auch jetzt, abgeklärt in Abendröte: „Was den Vielen nicht gelingt, muss der Eine machen.“ – Tja! Und mit einem unerschütterlichen Quantum Mut meint der ältere Herr: „Es ist Zeit, Gedanken zu sammeln, die du dir aus dem Kopf geschlagen hast.“ Wobei er gelegentlich kautzig ist: „Maximen und Moritzen (:ich).“
Alle Zitate sind dem handlichen 112-Seiten Buch „Handstreiche“ entnommen; eine Sammlung lakonischer Notate, sarkastisch gefasster Lebensweisheiten, soeben – elegant aufgemacht – bei Suhrkamp erschienen Anfang Mai zum 80. Geburtstag von Volker Braun.
Handstreiche – solcherart Überfälle erfolgen aus der Sicht des Schelms: Der, so sieht Braun sich mit Witz, gründe sein Denken, Grübeln, Handeln auf den plebejischen, ungehobelten, burlesken Umgang mit den Dingen. „Handstreiche“ enthält Einsprüche, Angriffe, Verteidigung, Träume, Rätsel, Scherze, Fingerzeige und Rippenstöße. Der Autor spricht ohne Vorsicht, unter der Hand erscheint so eine Autobiografie aus Steckbriefen. – Was ihm bleibt: „Die Habsucht der Augen. Meine Habseligkeiten.“ – Wir gratulieren zum Reichtum.
(Siehe zu „Handstreiche“ auch den Beitrag von Ulrich Kaufmann in dieser Ausgabe – die Redaktion.)

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Was vor fast einem Halbjahrhundert in exotisch titulierten Lokalen großer Städte Provinztouristen lockte, macht jetzt auch das Deutsche Theater in Berlin. Travestie oder Männer als Frauen verkleidet oder geschlechtlicher Rollentausch, das ist längst staatstheatertauglich. Einen Othello im Blaumann von einer Frau gespielt gab es vor Jahrzehnten schon in Hannover; heutzutage firmiert das unter dem Logo Identität, Diversität, Emanzipation oder als Kampfansage gegen Normierung, Fremdbestimmung, Diskriminierung. So weit so löblich.
Just im DT gab es kürzlich erst ein grandioses Lehrstück über die sexuelle und künstlerische Selbstfindung der Rosa von Praunheim, die hier immer auch heftig korrespondierte mit dem Politischen, zugleich aber nicht sparte mit Glanz und Glamour (siehe Querbeet vom 26. Februar 2018).
Jetzt, wieder in den DT-Kammerspielen, bei „Ugly Duckling“, geht es deutlich bescheidener zu, obgleich Literarisches heftig annonciert wird: nämlich die depressive Märchenwelt des Hans Christian Andersen. Da taucht die in einen Prinzen verknallte kleine Meerjungfrau auf, die den fischigen Unterleib opfern muss, um menschlich auf die Beine und ihrem irdischen Männerschwarm entgegen zu kommen. Oder ein gemobbtes hässliches Entlein („Ugly Duckling“) schnattert um sein Leben, bis es unter viel Leid und Tränen sich verwandelte in den bewunderten schönen Schwan.
Verwandlung ist denn auch das Stichwort dieser ziemlich grellen, erregt umjubelten Show von Regisseur Bastian Kraft, der hier auch als Stückentwickler antritt, was seine Stärke nicht ist. Das klasse gemachte Entertainment wiederum steht im jähen Kontrast zur Schmerzensfigur Andersen, die wohl eher selbst gern ein stolzer Schwan im blendend weißen Federkleid gewesen wäre als ein düster gebückter Graumann. Aber all das Grausame, Bitterböse, Schmerzensreiche, all die (selbst)mörderischen Ängste und seelischen Nöte, die das Verwandeln, das heftige sehnsuchtsvolle Durchdringen diverser Gegensätzlichkeiten begleiten, das schließt die dem tollen Schein hingegebene Veranstaltung weitgehend aus. Und so liefern halt drei Stars der Berliner Drag-Szene – Jade Pearl Baker, Gerome Castell, Judy LaDivina – hinreißende Show-Acts, gerahmt von Regine Zimmermann, Helmut Mooshammer und Caner Sunar aus dem DT-Ensemble, die sich gleichfalls ein bisschen kostümieren und anmalen. Lieblich grotesk zum Finale: Herr Mooshammer als Andersens Schwanenmädchen im bodenlangen Silbergewand und mit ausgestopftem Vogel über lockiger Haarpracht. In diesem Sinne das Schauspiel …
Überhaupt rückt das Umziehen und Umfärben am runden Schminktisch, der zugleich das Bühnenbild ist, aufdringlich in den Vordergrund. Wie hier ja alles glitzernder, perfekt performter, mit Popmusik durchröhrter Vordergrund ist, der den Saal zum Kochen bringt. Der dramatische, auch tragische, der jedenfalls theatralisch ergiebige Hinter- oder Untergrund entfällt. Schade!
Dass die beteiligten Damen und Herren oder was auch immer sie sind oder gelegentlich sein möchten zuweilen ein paar Worte zu den besagten beiden Verwandlungsmärchen sowie über sich selbst (privat, biografisch) ablassen, stört nicht weiter – abgesehen von Castells nüchterner Schilderung eines entsetzlichen homophoben Überfalls, der sie/ihn fast das Leben gekostet hätte. Ansonsten triumphiert der königliche Dreier der Drag-Königinnen. – „Mein Leben als Mann war die ungeschminkte Lüge“, bemerkte Castell nach hinlänglicher Verwandlungsarbeit, aufgedonnert mit Perücke, Farbe, Fummel. „Das hier ist die geschminkte Wahrheit.“ – Auch so ein Stichwort, dem nicht nachgegangen wird. Das womöglich mag jeder für sich tun, falls es nicht schon vergessen ist nach dem orkanartig johlenden Taumel der Begeisterung zum Schluss.

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Es mag ja das Kindsköpfige in mir sein, aber ich habe selten so gelacht im Theater – und das immer wieder – wie bei Franz und Paul von Schönthans unverwüstlichem Spaß-Klassiker von anno 1884 „Der Raub der Sabinerinnen“, den, allerhand Jahre ist’s her, Katharina Thalbach erst in Rostock, dann in Potsdam und in der Kudamm-Komödie inszenierte. – Und die Hauptrolle, den grotesk-komischen, von der Liebe zum Spiel, zur Verwandlung und Belehrung besessenen Menschenfreund und Theaterdirektor Emanuel Striese spielt – jetzt zum 100. Mal – Katharina Thalbach; freilich nicht mehr am Kudamm, sondern in der Bismackstraße im Schiller Theater, dem Interim-Domizil der Kudammbühne. Inzwischen spielen dort neben ihr auch Tochter Anna und Enkelin Nellie mit. – Applaus, Applaus! Ein maximal irrwitziger Schwank, total verblödelt und dennoch eine sehr zu Herzen gehende Hommage auf den zum Sinnbild gewordenen Theatermenschen Striese und seine sich über alle nur denkbaren Misslichkeiten hinwegsetzende, aufopferungsvolle Liebe zur Kunst diesseits und jenseits vom Rampenlicht. In Halle/Saale ließ Peter Sodann, auch ein Besessener, vor dem Neuen Theater auf der so genannten innerstädtischen Kulturinsel sein weltweit einziges Denkmal aufstellen. In Lebensgröße. Wer für die Bühne brennt, muss ihm und allen Strieses dieser Erde zu Füßen liegen. Eine kleine und doch ganz, ganz große Sache, diese Strieserei. Für immer! – „Ich hoffe, dass ich sie noch bis an mein Lebensende machen kann“, sagt die Thalbach. Und funkelt mit großen Stauneaugen.