von Ulrich Kaufmann
Heinrich von Kleist, der Anekdotenschreiber deutscher Zunge schlechthin, veröffentlichte 1811 die in Jena angesiedelte „Anekdote aus dem letzten Kriege“. Im Genre, Anliegen sowie im Titel knüpft Christoph Hein in seinem Band „Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“ bei Kleist an.
Auf dem Cover wirbt der Suhrkamp Verlag damit, dass der Autor sein „persönlichstes Buch“ vorgelegt habe. Dies ist insofern zutreffend, als er in den 28 Texten (die mehrfach die Länge klassischer Anekdoten überschreiten) von seinen Freuden und Konflikten spricht, die er vor, im und nach dem Umbruch 1989 erlebte. Um „Kriege“ in Politik und Wirtschaft geht es, vor allem um Kulturkämpfe. Letztere waren, etwa in der Bildenden Kunst, harte Verdrängungsattacken. Der Titeltext „Gegenlauschangriff“ geht in die Zeit der Biermann-Krise 1976 zurück. Berichtet wird, wie Manfred Krug die Stasi mit ihren Waffen geschlagen hat: In seiner Wohnung trafen sich bekanntermaßen kritische Künstler und hochrangige Politiker zu einem „internen“ Gespräch. Der Sänger und Schauspieler ließ Bänder mitlaufen, die den brisanten Disput dokumentierten.
Hein-Leser werden sich des aufwühlenden Romans „Horns Ende“ (1985) erinnern. Nun wird „Horns Anfang“ nachgeliefert. Wir erfahren, mit welchen verlegerischen Tricks es gelang, diesen brisanten Prosatext ohne „Druckgenehmigung“ an das Publikum zu bringen. Im Abspann des mit einem „Oskar“ gekrönten Films „Das Leben der Anderen“ (2006), in dem Ulrich Mühe die Hauptrolle verkörperte, wird Christoph Hein aufgelistet. Dagegen verwahrt sich der Erzähler in seinem Text „Mein Leben, leicht überarbeitet“ entschieden, aber vergeblich. Der Streifen, der Momente aus Biermanns und Heins Vita aufnimmt, arbeite mit „melodramatischen Wahrheiten“ und bediene sich „alternativer Fakten“.
Hein, der als Mensch und Künstler in den Jahrzehnten der DDR viele Erniedrigungen zu erdulden hatte (ewiges Warten auf einen Studienplatz, Verbot von Reisen und Aufführungen, Stasi-Überwachung …), war wahrlich kein Apologet des untergegangenen Staates. Die DDR hat er genauestens begleitet und so entschieden kritisiert wie nur wenige seiner Kollegen. Erinnert sei an seine mutige Zurückweisung aller Formen von Zensur, die er 1987 auf dem Schriftstellerkongress der DDR vorgetragen hatte.
Unerschrocken, schnörkellos und präzise und mitunter sarkastisch attackiert der Autor nunmehr heutige Missstände in Deutschland. So in dem Prosatext „Neger“. Hein zeigt, wie der Berliner Senat mit Schikanen, Lügen und Erpressungen verhinderte, dass er Intendant des großen „Deutschen Theaters“ wird. Dies ist umso empörender, als man den Dramatiker und Dramaturgen seinerzeit für dieses Amt offiziell vorgeschlagen hatte.
In einer der knappen Anekdoten „Auf Niveau bringen“ schildert der Autor seine Begegnung mit einem von Bonn beauftragten Ministerialbeauftragten: „,Herr Hein‘, rief er mir zu, ,ich komme gerade von einer Reise durch Thüringen und Sachsen zurück. Dort gibt es ja alle dreißig, vierzig Kilometer ein Symphonieorchester! Das müssen wir schnellstens auf bundesdeutsches Niveau bringen!‘ Dieser Beamte der Besoldungsgruppe B 8 war mit dem kulturellen Aufbau Ost beauftragt.“
Der lesenswerte Band liefert Blicke hinter die Kulissen alter und neuer Strukturen. So werden zugleich Kontexte zu seinen Romanen und Theaterstücken sichtbar. In seinem „persönlichsten Buch“ macht der besessene Chronist bislang wenig bekannte biographische Konturen sichtbar.
Am 8. April wurde Christoph Hein 75 Jahre alt.
Christoph Hein: Gegenlauschangriff – Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 125 Seiten, 14,00 Euro.
Schlagwörter: Christoph Hein, DDR, Kulturkämpfe, Ulrich Kaufmann