22. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2019

Das kurze Leben der Weltpartei

Von Mario Keßler

Im Vorfeld der Wahlen zum europäischen Parlament ist unter Linken einmal mehr die Frage entbrannt: Welche Wege führen mittelfristig hin zu einem sozialen Europa als Alternative zum neoliberalen Kapitalismus? Die Linksfraktion im Europaparlament spricht hier keineswegs mit einer Stimme; das Bekenntnis zu internationalistischen statt nationalistischen Antworten auf aktuelle Probleme eint sie jedoch.
Ein vielstimmiges Konzert linker Stimmen ist keine Neuheit unserer Tage. Auch in der vor 100 Jahren in Moskau gegründeten Kommunistischen Internationale prallten zunächst gegensätzliche Meinungen aufeinander. Sogar über die Gründung der Komintern oder KI, wie sie oft abgekürzt wurde, gab es keine Einigkeit. Lenin drängte auf die Gründung der neuen Internationale, andere hatten Bedenken: der deutsche Delegierte Hugo Eberlein enthielt sich bei der Abstimmung – dem Rat Rosa Luxemburgs folgend – der Stimme.
Die Komintern, die sich als Weltpartei verstand, litt von Anfang an unter einem nicht zu beseitigenden Widerspruch: der einzigen in einer Revolution siegreichen Partei, den Bolschewiki, stand eine Reihe meist kleiner, oft illegal tätiger Parteien in vielen Ländern gegenüber. Nur in Deutschland, Frankreich und der Tschechoslowakei entstanden kommunistische Massenparteien. Die auf dem 2. Komintern-Kongress 1920 verabschiedeten 21 Aufnahmebedingungen schlossen sogenannte reformistische und zentristische Parteien aus. Seitdem wurde die Gefahr der Einmischung der Komintern-Zentrale in die Angelegenheiten der einzelnen Parteien immer deutlicher. Der KPD-Vorsitzende Paul Levi, der früh davor warnte, war 1921 der erste in einer langen Reihe kritischer Köpfe, die aus der KI ausgeschlossen wurden.
Angesichts der gewaltigen inneren Probleme Sowjetrusslands erwarteten die Bolschewiki von den Kommunisten in Mittel- und Westeuropa eine Entlastung. Doch die revolutionären Aufstände in Deutschland und Bulgarien endeten bis 1923 im Fiasko. Daraufhin erklärten der Komintern-Vorsitzende Grigori Sinowjew und der im Hintergrund immer mächtiger werdende Stalin die Losung der Bolschewisierung, die möglichst vollständige Übertragung des zentralistischen russischen Parteimodells auf die westeuropäischen Parteien, zur verbindlichen Maßnahme. In Deutschland taten sich Ruth Fischer, Arakadi Maslow und Werner Scholem, in Frankreich Albert Treint und Suzanne Girault bei der entsprechenden Umformung der Parteien und der Unterdrückung innerparteilicher Kritik hervor – bevor sie selbst ausgeschlossen wurden. Sie hatten im innersowjetischen Machtkampf, dessen Folgen in der ganzen Komintern spürbar wurden, auf Sinowjew und nicht auf den siegreichen Stalin gesetzt.
Unter Stalin und seinen Gefolgsleuten wie Ernst Thälmann, Maurice Thorez und Klement Gottwald wurden die Komintern-Parteien zunehmend zu Instrumenten der sowjetischen Politik – mit schlimmen Folgen: Die westeuropäischen Parteien mussten Stalins Linie der totalen Konfrontation mit der internationalen Sozialdemokratie übernehmen. In Deutschland führte dies, zusammen mit dem Antikommunismus der SPD, zur unversöhnlichen Spaltung der Arbeiterbewegung, aus der die Nazipartei auf ihrem Weg zur Macht den entscheidenden Nutzen zog. Erst 1934 fanden sich in Frankreich Kommunisten und Sozialisten in gemeinsamer Abwehrfront gegen den Faschismus zusammen. Der 7. und letzte Komintern-Kongress wies 1935 in Moskau Wege zur Aktionseinheit der Arbeiterbewegung. Die Ansätze dieser Einheit zerbrachen nur ein Jahr später vor dem Hintergrund der Moskauer Prozesse, in denen Lenins alte Mitkämpfer liquidiert wurden, und dem einsetzenden Terror der sowjetischen Geheimpolizei gegen unabhängige Linke hinter den Fronten im Spanienkrieg. Die Zustimmung der kommunistischen Parteien zur deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit im Herbst 1939 besiegelte das faktische Ende der Komintern, auch wenn diese formell erst im Mai 1943 aufgelöst wurde.
Waren die Kommunisten seit dem Herbst 1939 politisch isoliert, so fanden sie nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 ihre Tatkraft wieder. In Italien, Frankreich, Griechenland und Jugoslawien trugen sie die Hauptlast des antifaschistischen Widerstandes, den sie mit immensen Verlusten an Leib und Leben bezahlten. Dadurch erwarben sich Kommunisten neues Ansehen weit über die Linke hinaus. Die Bilanz der Komintern und ihrer Parteien ist also keineswegs nur negativ. In China, Indien, Lateinamerika und im arabischen Raum waren Kommunisten oft die einzige politische Kraft, die sich brutaler kolonialer und halbkolonialer Unterdrückung entgegenstellte. Die Sozialdemokraten, besonders die der Kolonialmächte England und Frankreich, bemäntelten und rechtfertigten teilweise sogar die Kolonialherrschaft, um ihre bürgerlichen Partner in möglichen Koalitionen nicht zu verprellen. Auch in Europa waren Kommunisten oftmals führend in Streikaktionen, wenn Sozialdemokraten noch zauderten.
Heute, da sich auch die Sozialistische Internationale 2013 gespalten hat und jenseits von ihr keine linke internationale Organisation von Bedeutung mehr existiert, ist es umso nötiger, die Verdienste und Fehler der Komintern einer kritischen Prüfung zu unterziehen – auch, um neue Perspektiven einer Zusammenarbeit progressiver Kräfte zu eröffnen.

neues deutschland, 5. März 2019; Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.