von Hajo Jasper
Also: Ich habe den Beitrag von Günter Hayn („Krach im Liebknecht-Haus“ im Blättchen 9/11) nicht nur mit Interesse gelesen, sondern mit jener inneren Bewegung, die man gemeinhin als – jedenfalls weitgehende – Übereinstimmung bezeichnet. Ja, die Lage der Linken, ganze vier Jahre nach einer eigentlich hoffnungsvollen Vereinigung von PDS und WASG und der solcherart vermeintlichen Stärkung, ist derzeit wenig attraktiv, um es freundlich zu sagen. Und für dieses Fazit ist der Maßstab keineswegs irgendein Idealzustand. Den gibt’s für Linke eh´ nicht; es sei denn, sie haben wie im seligen Realsozialismus die Lufthoheit und bilden ihn sich ein bisschen ein …
So viel also Beipflichtung zu Hayns Befund. Nun eine Überlegung, die, wenn ich Pech habe, als Gegensatz betrachtet wird, wiewohl das so jedenfalls keineswegs gemeint ist. Sind Ungeduld und kritischer Begleitungsbedarf an Tun und Lassen dieser Partei auch nachvollziehbar, so möchte ich doch auch ein Plädoyer dafür ausbringen, dass niemand das Kind mit dem kritischen Bade ausschütten möge. Das ist beileibe kein Fanfarenstoß dafür, dass diese linke Partei von einer sich ebenso als links verstehenden Publikation wie dem Blättchen aus reiner Binnensolidarität als sakrosankt zu behandeln wäre. Im Gegenteil. Haben wir doch im Verlauf der 14 Jahre unserer Existenz doch nicht zuletzt deshalb den Finger in die allzeit vorhandenen Wunden dieser Partei gelegt, weil wir zumindest keine andere sehen, die es verdiente, gestärkt zu werden, um mehr Einfluss auf den Lauf der gesellschaftlichen Dinge unseres Gemeinwesens zu bekommen.
Nur eben: Was viele Kritiker der Linken – jedenfalls die ohnehin wenigen objektiven, ehrlichen und wohlmeinenden – übersehen, ist etwas, woraus sich allerdings Geschichte letztlich immer speist: der evolutionäre Charakter nämlich jener Dinge, von denen das gesellschaftliche Leben handelt. Und so sehr dieser Prozess widersprüchlich bis zur Schmerzlichkeit, auch bis zur Zerbrechlichkeit, ist – er wird sich auch in diesem Falle nicht umgehen lassen. Per Dekretierung jedenfalls ist er nicht zu vermeiden, da kann das neue Parteiprogramm noch so einmütig beschlossen werden; wenn es das denn wird.
Was wir bei aller Betrübnis über diesen wohl unvermeidlichen Lauf der Dinge aus der Geschichte nicht nur der Linken lernen können, ist letztlich doch immer wieder auf jenes Bild zurückzuführen, das Lenin einst gezeichnet hatte, als er davon sprach, dass eine revolutionäre Situation dann gegeben ist, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Dann, erst dann! Eine Logik, die eines Autoritätsbeweises eigentlich nicht bedürfen sollte. Betrachtet man die Situation der ersten Welt dieser Tage, so ist es unstrittig, dass in sie viel Bewegung gekommen ist; wie dies auch auf das Verhältnis zur Welt der „Tigerstaaten“ und – jedenfalls in absehbarer Zeit – wohl auch zur „Dritten“ Welt zutrifft. Nur eben: Können unsere „Mächtigen“ nicht mehr? Und wollen unsere „Unteren“ nicht mehr?
All jene, für die es in Sachen Kapitalismusende schon seit fast 100 Jahren „5 vor 12“ ist, sind von beidem ähnlich überzeugt wie die Christen von der Wiederkehr des Gottessohnes zu uns hienieden. Allerdings richtet sich der Lauf der Dinge nicht nach ideologischer Folgerichtigkeit. Und so ist festzustellen, dass die ebenso oft totgesagte wie berechtigterweise attackierte Marktwirtschaft nach wie vor funktioniert. Mit der Möglichkeit ihrer mittlerweile schrankenlosen globalen Ausdehnung hat sie sogar neue Kraftreserven erschlossen, wiewohl nach der Globalisierung allerdings kein Wachstum durch Erschließung weiterer Märkte folgen kann, jedenfalls keiner irdischen.
Und wie steht’s damit, dass „die unten nicht mehr wollen“? Wer dies wissen will, bemühe sich zu den einschlägigen „Massen“demonstrationen zu sozialen Themen, er dürfte mit ernüchternden Eindrücken zurückkehren …
Nein, ich fürchte, der Weg zu dem, was für die einschlägige PDL-Plattform der angestrebte Kommunismus ist, dürfte leider viel, viel steiniger sein, als eh schon zugestanden. Er wird sich nicht dadurch beschleunigt zurücklegen lassen, dass man diese Gesellschaftsformation allzeit tapfer einfordert. Und es wird ein Spagat bleiben, wie man sich solange zu den Spielregeln der bürgerlichen Wirtschafts- und Politwelt verhält. Das war übrigens so, seit es die Arbeiterbewegung auf der einen und die kapitalistische Welt auf der anderen Seite gibt. Oder meint jemand ernsthaft, dass die seinerzeitige in „Realos“ (SPD) und „Fundis“ (KPD) oder heute in „Reformer“ und „Rechtgläubige“ nur der Unzurechnungsfähigkeit und/oder dem Opportunismus einzelner Parteioberen zuzuschreiben ist?
Was wir heute erleben, ist letztlich nichts anderes als „the same old story“. Es gibt zwei Möglichkeiten des Selbstverständnisses von Linken: die der radikalen Überwinder des Systems (die aber leider noch immer in fast luftleerem Raum agieren) und jener, die aus den gegebenen Verhältnissen ein Maximum für die Menschen unterhalb der Liga von BDA- und BDI-Mitgliedern oder FDP- und CDU-Parteibuchträgern herausholen wollen, das Risiko von Vereinnahmung und Zugeständnissen dicht an der Schmerzgrenze eingeschlossen. Als „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ sind letztere vor 80 Jahren stigmatisiert worden – in polemischer Simplifizierung jener Worte, auf die diese Metapher zurückgeht. Der nicht nur von Ultralinks allzeit bemühte und geächtete Fritz Tarnow – Anfang der 30er Jahre einer der maßgeblichen sozialdemokratischen Gewerkschafter – hatte das Dilemma seiner Partei auf deren Leipziger SPD-Parteitag 1931 folgendermaßen in Worte gefasst: „Nun stehen wir ja allerdings am Krankenlager des Kapitalismus nicht nur als Diagnostiker, sondern auch – ja, was soll ich da sagen? – als Arzt, der heilen will?, oder als fröhlicher Erbe, der das Ende nicht erwarten kann und am liebsten mit Gift noch etwas nachhelfen möchte? In diesem Bilde drückt sich unsere ganze Situation aus. Wir sind nämlich, wie mir scheint, dazu verdammt, sowohl Arzt zu sein, der ernsthaft heilen will, und dennoch das Gefühl aufrechtzuerhalten, dass wir Erben sind, die lieber heute als morgen die ganze Hinterlassenschaft des kapitalistischen Systems in Empfang nehmen wollen.“
Gewiss, über den Anteil der Sozialdemokratie am Nichtzustandekommen der Aktionseinheit gegen den Faschismus besteht ebenso wenig Zweifel wie an dem Verrat Ihrer Oberen an der Revolution von 1918 oder an ihrer systemstabilisierenden Funktion in der bürgerlichen Nachkriegsdemokratie. Das gilt nicht minder für vieles Weitere, was – nicht nur Tarnow – an Verhängnisvollem auf diesem Parteitag geäußert hat. Wie mittlerweile wohl auch Konsens darüber herrschen sollte, dass revolutionäre Fehleinschätzungen ebenfalls verhängnisvoll sind und dass solche deutsche Arbeiter 1921 und ähnlich 1923 in sinnlose Schlachten geführt haben, weil in diesen Fällen gar im auswärtigen Moskau am grünen Tisch über den Grad revolutionärer Voraussetzungen maßgeblich mitentschieden wurde, die mit der Realität nur bedingt etwas gemein hatten.
Überhaupt: Es geht ja keineswegs um die Wiederbelebung irgendwelchen verbindlichen Bescheidwissens, mit umgekehrten Vorzeichen. Wenn nur eben linke Arroganz es doch fertig brächte, wenigstens im Nachhinein über die Argumente der „anderen“ nachzudenken, und sei es nur, um dem innerparteilichen Widerpart zuzubilligen, auch dann plausible Überlegungen anzustellen, wenn man diese nicht teilt. Es wäre schon viel gewonnen, wenn all die Flügelkämpfer nicht so tun würden, als sei ihre Anschauung die einzig selig machende und – noch schlimmer: die einzig wahre! Ist es denn so furchtbar zu erkennen, dass die Linke nach wie vor auf einer Suche ist und nicht per politischem GPS-Signal auf der kürzesten Strecke zum eingegebenen Ziel? Noch immer gilt aber, weil sehr viel kommoder und „klassenmäßiger“: Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen, auf sozialdemokratischer Seite bis heute ebenso ungebrochen wie auf der jener Partei, die sich links davon verortet.
Was man nicht will, weiß man dort, so heißt es jedenfalls auf Tonnen bedruckten Papiers. Auch – wenngleich eher allgemein und ungefähr – was man will: eine gerechtere, eine menschlichere Gesellschaft. Die kann man nun allweil einklagen, erreicht wird sie dadurch nicht. Und dies solange, bis „die da oben“ wirklich nicht mehr können und „die da unten“ wirklich nicht mehr wollen?
Was heute ebenso zu leisten ist wie alle Zeit, seit es eine linke Bewegung zur Überwindung der Klassengesellschaft gibt, ist, so scheint´s, das, was dem Korintherkönig Sisyphos einst aufgegeben ward: Wieder und wieder den verflucht sperrigen und schweren Stein bergan rollen, um den zukunftsversperrenden Gipfel irgendwann zu überwinden. Und dabei aber eben auch derer eingedenk zu sein, für die man das tut, und zwar nicht erst, wenn der Berg irgendwann mal bewältigt sein wird.
„Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“, hat Albert Camus mit Bezug darauf gesagt, dass das stete Hochwuchten der Kugel zur Bergesspitze auch dann nicht vergeblich ist, wenn dieser Vorgang sich Mal um Mal wiederholen muss. Denn: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“ Wohlan, wem dieser Dauerauftrag nicht zu mühselig ist.
Ich fürchte, einfacher wird’s nicht zu haben sein. Sollte ich irren, wäre ich mir aber wohler.
Schlagwörter: Die Linke, Fritz Tarnow, Hajo Jasper, KPD, Sisyphos, SPD