von Klaus Hammer
Der Berliner Bildhauer Berndt Wilde (Jahrgang 1946) hat bei Walter Arnold, Hans Steger und Gerd Jaeger in Dresden studiert, einen entscheidenden Schritt hat er aber als Meisterschüler an der Akademie der Künste bei Werner Stötzer vollzogen. Er verlagerte seine Beobachtung vom außerkünstlerischen Gegenstand immer mehr auf das skulpturale Formgeschehen, dessen Gliederung, Statik und Dynamik. Alle möglichen raschen Richtungsänderungen traten auf, die Bildhauerhand griff in die Materie, prägte die Figur.
Wie kann man den menschlichen Leib vitalisieren? Wilde stellte die signalisierenden Möglichkeiten der Gliedmaßen in das Zentrum seines Schaffens. Eine große strömende Energie formt seine Körper. Und dennoch entstanden vollrunde, massive, auf die „große Form“ hin konzipierte Figuren. Souverän ruhende, mächtig dasitzende, dastehende, eindrucksvoll „sinnende“ Frauengestalten. Aus der Ballung des Materials, aus der gedrungenen Formgebung, aus der hermetischen Abgeschlossenheit gelangte der Künstler, der 1994 bis 2006 eine Professur für Bildhauerei an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee inne hatte, zur menschlichen Selbstfindung.
Der Kunsthandel Dr. W. Karger in Berlin-Charlottenburg zeigt jetzt eine exquisite Schau vor allem jüngerer und jüngster Arbeiten Wildes in Stein (Sandstein, Kalkstein, Marmor, Travertin), während dessen Bronzen fehlen. Wunderbar kann man erkennen, wie Figürliches – die Stehende, Hockende, Liegende, die Träumende, Schwangere, die Sich-Sonnende, die torsierte Figur oder das Liebespaar, Martyrium, Ariadne oder Adam und Eva – miteinander und zueinander dastehen. Ja, im Beziehungshaften präsentieren sich die Stand- und Sinnbilder Wildes. Nie wird die Abstraktion so weit getrieben, dass dadurch die materialbedingte Gestalt ihren Naturgrund verliert. Der Bildhauer abstrahiert, indem er aus der lastenden Schwere des Vorgegebenen ein Formgefüge in seiner Singularität herausarbeitet. Die Eigentümlichkeit des Materials verschwindet nicht, sondern wird ein mitgestaltendes Element des Werkes. Wo er mit Schnitten und Flächen arbeitet, öffnet die plastische Erfahrung der Grenze den Raum des Nichtbegrenzten. Die dynamische Einheit des dinglich Begrenzten mit dem Unbegrenzten wird greifbar.
Es geht Wilde stets um die ruhig liegende, sitzende oder aufrecht stehende Figur, um den kompakten geschlossenen Körper, der nicht mit Gesten, Bewegungen in den Raum ausgreift, um ein gesammeltes, konzentriertes Bei-sich-Sein der Figur. Hinzu kommt der Zusammenhang von Innen und Außen, von Konstruktion und lebendem Organismus, von Formel und Form. Das Aufsteigen des Menschen, der sich zur Höhe erhebt – Symbol menschlicher, geschichtlicher Entwicklung, aber auch das Eingespanntsein des Menschen zwischen oben und unten.
Wilde ist mit Zielsicherheit seinen Weg gegangen, seine Arbeiten stehen heute unverwechselbar da. Nie hat er den Block unentschlossen hin und her gewälzt, Balance suchend und „Form“ vereinfachend. Seinem strengen architektonischen Prinzip wirkt eine Dynamik entgegen, die die Skulpturen in Bewegung versetzt, obwohl sie aus schweren Blöcken gebaut sind. Spontane Gestaltung durchkreuzt mitunter den architektonischen Grundzug. Der Bildhauer weiß, dass man eine neue bewegliche und menschliche Ordnung nur im Zurücknehmen, im Zurücktasten auf sich selbst finden kann, dass man einen Halt setzen, dass man die Unverrückbarkeit postulieren muss. Seine Figuren sind von größter Strenge, eine entschiedene Absage an alle Leichtlebigkeit, an alles Gefällige, schnell Eingängige. Es sind klare Entscheidungen, aufgebaut in der Durchdringung von organischen Werten und tektonischer Form: Figuren als Widerstand, Figuren des Widerstehens.
Ein Traum, ein Schwebezustand scheint in der „Roten Träumenden“ (2018, Buntsandstein) eingefangen und in Stein verewigt zu sein. Der eine Arm hält stützend den zur Seite gefallenen, die Brust berührenden Kopf. Doch kein Schlaf und auch kein Traum sind hier erkennbar, sondern ein nach innen gerichtetes Wachsein. Eine Verdichtung der plastischen Erscheinung im Torsohaften wiederum offenbart die „Liegende“ (2018, Marmor). Der Marmor wird in seinem natürlichen Gewachsensein belassen. Strenge Torsi voll inneren Lebens entstehen daraus, beredte Fragmente im Sinne einer höheren Ganzheit. Der Idee Mensch werden wir bei diesem Bildhauer nie als Vorgeben teilhaft, sondern immer nur in der Erfahrung von Existenz, von Schicksal, von Auseinandersetzung, von Zustand und Erleiden. Darum wohl auch die Hinwendung zu mythischen und biblischen Gestalten, in denen das Erlebnis von Sturz und Scheitern, Abbruch und jäher, schmerzhafter Wendung aufbewahrt ist. Wenn schon Erregung, dann ist sie für Wilde Bewegung, Drehung, Krümmung und Wendung, aber nicht Taumel, Ekstase und Ineinanderstürzen der Leiber.
Es bedarf keiner zusätzlichen Bewegungsgeste mehr, der eine Augenblick, der festgehalten ist, hat alles Vorher und Nachher in sich aufgenommen. Die Handlung ist ins Innere verlegt, das Ereignis liegt in der Tiefe des eigenen Schicksals, Mensch zu sein, nicht im äußeren Vorkommnis. Die Figuren Wildes flüchten nicht vor sich selbst, nicht vor dem Schicksal, das sie prägt, das in sie eingegangen ist.
Akt-Zeichnungen in einem lockeren Duktus, in dem das Licht mitmoduliert wird, begleiten und akzentuieren das skulpturale Werk. Eine Körperlichkeit tritt hier zutage, optisch gebrochen in einer höchst modernen hochgradigen Sensibilität. In ihnen konzentriert sich jene versammelte herbe Poesie, die auch im Ausdruck der Steine mitschwingt.
„In Stein gehauen“ – Skulpturen und Zeichnungen von Berndt Wilde. Kunsthandel Dr. Wilfried Karger, Galerie für figurative Skulptur, im stilwerk Berlin, Kantstr. 17, 10623 Berlin, Die–Fr 14–19 Uhr, Sa 10–19 Uhr, bis 16. März 2019.
Schlagwörter: Berndt Wilde, Bildhauerei, Klaus Hammer, Skulpturen, Zeichnungen