21. Jahrgang | Nummer 26 | 17. Dezember 2018

Schule auf Rügen anno dunnemals

von Dieter Naumann

Kritisch äußert sich 1884 das „Brockhaus’ Conversations-Lexikon“ über „eine Reihe von Gefahren, deren Wichtigkeit erst in der neuesten Zeit hinreichend gewürdigt wurde“. Neben der Gefahr der Übertragung ansteckender Krankheiten böten die sitzende Lebensweise, die gezwungene Haltung an fehlerhaft konstruierten Schultischen, die Einatmung schlechter Luft in schlecht ventilierten Zimmern und „die Überanstrengung der Augen und des Hirns“ in den „Anstalten gemeinsamen Unterrichts“ eine ergiebige Quelle „schwerer, oft lebensgefährlicher Krankheiten“. Damit war jedoch nur ein Teil der Mängel des Schulwesens in den ländlichen Gebieten Deutschlands im 19. Jahrhundert beschrieben.
Ein Blick zurück: Als Folge der Reformation werden in Küster-, landesherrlichen und ritterschaftlichen Schulen nach dem Niedergang des Schulwesens im Dreißigjährigen Krieg erste Anstrengungen zur Vermittlung der Lehre des christlichen Glaubens (Katechismus) und zur Alphabetisierung der Kinder aller Volksschichten unternommen. Den Unterricht in den Küsterschulen erteilten die Küster mehr schlecht als recht. Obwohl 1791 in Greifswald eigens zur Ausbildung der Küster und Schulmeister ein Landschulmeisterseminar unter Oberaufsicht des Generalsuperintendenten ins Leben gerufen worden war, dem zwei weitere in Vorpommern folgten, konnten sie nie die erforderliche Ausbildung der Seminaristen vermitteln. Bezeichnend ist, dass noch 1805 den Seminarbesuchern empfohlen wurde, nebenbei ein Handwerk zu erlernen, am besten das des Schneiders, da sie sonst nicht ihren Unterhalt finden würden. Neben den Küstern unterrichteten oft Handwerker, Fischer, Bauern und Witwen, die zwar häufig über gewisse Kenntnisse im Katechismus und im Lesen verfügten, aber keinerlei pädagogische Ausbildung hatten. Aus Bergen wurde berichtet, dass 1800 ein Handwerker die Erlaubnis zu einer Nebenschule erhielt, weil sein Vater Kantor war, und man ihm deshalb die nötige Befähigung zutraute.
Da der Lehrerberuf in den meisten Fällen erbärmlich besoldet und somit wenig attraktiv war (erst um 1830 und zunächst nur in neuen Schulen ersetzte ein festes Gehalt das bisherige Schulgeld), konnten selten geeignete Kandidaten eingestellt werden. In der Rügenliteratur wird darauf verwiesen, dass die angestellten „Schulmeister“ meistens untaugliche Personen waren, die den Schuldienst oft nur deshalb ausübten, um die dem Lehrer zustehenden „Privilegien“ (Wohnung, Garten, Weidefreiheit, Fütterung einer Kuh, ein paar Fuder Holz und einige kleine Geldbeträge, Freitisch et cetera) zu erhalten. Es bedurfte sogar des „Befehls der Königl. Regierung vom 25. August 1822“, den Georg Paries, 1921 bis 1928 Leiter der Badeverwaltung von Thiessow und Schriftführer des Rügenschen Ostseebäderverbandes, in seinem 1926 erschienenen „Rügenschen Heimatbuch“ zitiert: „Die Küster und Schullehrer auf dem Lande sollen sich in ihren Unterrichtsstunden ordentlich und reinlich kleiden, nicht in Pantoffeln und zerrissener Kleidung in die Schule gehen und während des Unterrichts nicht Tabak rauchen.“
Besonders prekär war die Lage in den so genannten Nebenschulen, die anfangs nicht nur vom guten Willen der jeweiligen Gutsherrschaften abhängig waren, sondern eine Besoldung anboten, die den Haupterwerb des Lehrers als Handwerker oder Bauer zwingend erforderten. Erst um 1830 wurden die Nebenschulen zu öffentlichen Schulen. Noch 1833 heißt es im „Provinzial-Kalender für Neu-Vor-Pommern und das Fürstenthum Rügen“ über Nebenschulen im Kirchspiel Schaprode, sie würden in einigen Dörfern durch „meistentheils bejahrte Witwen“ und in Poseritz „von einer alten Frau gehalten“, in Sagard wurden sechs Schulen als „vacant“ bezeichnet.
Vielerorts hatten die Gutsherren ein etwas gestörtes Verhältnis zu – wie sie wohl meinten – „ihren“ Lehrern und Schülern. Das Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt vom 7. März 1901 berichtete, an einem Freitagvormittag sei Rittergutsbesitzer von Platen auf Parchow in das Klassenzimmer der Bischofsdorfer Schule eingedrungen und beschimpfte den Lehrer, weil der ihm Kinder für die Fuchsjagd verweigert hatte. Es kam sogar zu Handgreiflichkeiten, die der Lehrer beim zuständigen Superintendenten anzeigte. Obwohl bereits nach 1918 Gesetze über das Schulwesen auf dem Lande existierten, die den Einfluss der einzelnen Gutsherrschaften stark einschränkten, berichtete der Wieker Ortschronist Günter Käning, dass die für neue Lehrmittel beantragten Gelder für die Landschule von Cammin im Jahre 1926 (!) durch Gutsbesitzer Jäger aus Lobkevitz mit der Begründung verweigert wurden, „wenn die Leute man die Scheiden (Grenzen des Feldes) kennen, dann genügt das vollauf“.
Unterrichtsgegenstand waren neben dem Katechismus lange Zeit nur Lesen und Schreiben, erst später auch Rechnen. Der insgesamt schlechte und unregelmäßige Schulbesuch fand in der Regel nur im Winter statt, da die Kinder die Eltern im Sommer bei der Feldarbeit unterstützen mussten. In Bischofsdorf und Dranske soll im Sommer 1826 nicht einmal die Hälfte, in Sagard 1828 nicht einmal ein Fünftel der schulpflichtigen Kinder den Unterricht besucht haben. Noch bis in die 1850er Jahre konnte man im Winter von einem, im Sommer von zwei Dritteln der Schüler ausgehen, die nicht zum Unterricht erschienen, obwohl die allgemeine Schulpflicht für Neuvorpommern bereits 1825 eingeführt worden war.
Für sogenannte Sommerschulen wurden 1849 die Unterrichtszeiten festgelegt: Sie dauerten für die älteren Schüler von 6 bis 8 Uhr, für die jüngeren Kinder von 9 bis 11 oder 12 bis 14 Uhr. Lehrer Benz aus Varsnevitz schrieb 1907 in seiner Chronik über die Sommerschule, dass die Schüler wegen der Feldarbeit unmittelbar nach dem Unterricht am nächsten Morgen schläfrig zur Schule kämen und auch durch einen lebhaften und interessanten Unterricht nicht aus ihrer Trägheit aufzurütteln wären.
Neben dem häufig unzureichenden Wissen und fehlendem pädagogischen Geschick der Lehrer wirkten sich auch die oft katastrophalen Zustände der Räume, in denen der Unterricht stattfand, negativ aus. Anfangs war es häufig das Wohnzimmer des Küsters oder irgendein Raum im Haus des Nebenlehrers, in dem die Kinder unterrichtet wurden. Das 1823 von Carl Schneider in seinem „Reisegesellschafter“ gelobte „niedliche“ Schulgebäude in Putbus, das, vom Fürsten freigiebig versorgt, „so keck zwischen den hohen Prachtgebäuden da(steht), als wenn es stolz auf seine Bestimmung wäre, daß in ihm die Jugend des Orts und der Umgegend zu guten und nützlichen Menschen gebildet werde“, war eine der wenigen Ausnahmen. In der Rügenliteratur finden sich um 1830 die Einschätzungen einiger Schulräume durch den Stralsunder Regierungs- und Schulrat Adolf Friedrich Furchau als „elende Schullokale, höchst beschränkt und äußerst mittelmäßig“. Ein Beispiel: 1864 ordnete die Königliche Regierung in Stralsund nach langen Klagen des Lehrers Wilhelm Borgwardt an, eine Schlafkammer im Schulhaus von Göhren zu errichten, damit das Bett des Dienstmädchens aus der Schulstube entfernt werden kann. Erst 1870 werden die Fenster der Schulstube verändert und die Bänke umgesetzt, damit das Licht von der linken Seite einfallen kann.
Die Ursachen für die schlechte Besoldung der Lehrer und den Widerstand gegen neue beziehungsweise die Erhaltung der bestehenden „Schulstuben“ bestanden zum einen darin, dass die Hauptlast der Schulfinanzierung durch die meist klammen Kirchgemeinden und Kommunen zu tragen war. Zum anderen sah man häufig keine Notwendigkeit eines weiterführenden Unterrichts. Eine Familie aus dem kleinen Ort Saiser bemerkte 1919 gegenüber dem zuständigen Lehrer, dass ihr Sohn (12 Jahre alt), der fast dauernd für die Feldarbeit von der Schule ferngehalten wurde, „doch binoh all tau grot för die Schoul“ sei. Warum solle der Junge lesen und schreiben können, wenn er doch pflügen und säen könne? Sarkastisch äußerte sich Georg Paries 1926 über das Schulwesen auf Mönchgut. Während man sich in größeren Gemeinden um die Schaffung guter Schulverhältnisse bemüht hätte, „zieht sich lange Zeit durch die Geschichte unserer Schulen wie ein roter Faden die Interessenlosigkeit und der Widerstand der Gemeinden gegen jeden Fortschritt im Schulwesen. Darüber hinaus hat es oft an der Bereitstellung der allernotwendigsten Mittel zu ihrer Unterhaltung gefehlt […] Ohne Staat und ohne staatlichen Zwang hätten wir auf Mönchgut wohl kaum Schulen.“