21. Jahrgang | Nummer 26 | 17. Dezember 2018

Atomares Wettrüsten zwischen China und USA?

von Jerry Sommer

China besitzt nach Angaben des „Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (SIPRI)“ etwa 280 Atomsprengköpfe. Zum Vergleich: Die USA und Russland verfügen jeweils über 6.500 nukleare Gefechtsköpfe. Die amerikanischen und russischen Waffen sind bereits auf Trägersystemen wie beispielsweise Raketen montiert. Die chinesischen Atomsprengköpfe dagegen werden in zentralen Depots gelagert. Dementsprechend sind sie auch nicht sofort einsatzbereit.
Wie die übrigen Atommächte modernisiert auch China seine Nuklearwaffen. Für den chinesischen Sicherheitsexperten Tong Zhao vom „Carnegie –Tsinghua Center for Global Policy“ in Peking ist China besorgt, sein kleines Atomarsenal könne durch einen Erstschlag ausgeschaltet werden. „Die USA und andere Staaten entwickeln gegenwärtig unter anderem nicht-nukleare Systeme, die die Zweitschlagsfähigkeit Chinas bedrohen können. Dazu gehören auch die amerikanischen Raketenabwehrsysteme.“ Diese Einschätzung wird von westlichen Experten geteilt.
Die Modernisierung umfasst verschiedene Bereiche: So entwickelt China verstärkt Raketen, die mehrere Sprengköpfe tragen können. Außerdem werden Atomraketen auf LKW montiert. Da diese mobil sind, können sie nur schwer geortet werden. Peking ist darüber hinaus auch dabei, eine mit Nuklearwaffen ausstattbare U-Boot-Flotte aufzubauen, so der Atomwaffenexperte Hans Kristensen von der „Federation of American Scientists“. China habe bereits vier U-Boote in Dienst gestellt, die „mit Atomwaffen bestückt werden können. Aber die allgemeine Auffassung ist, dass diese bisher nicht mit Nuklearwaffen an Bord in See stechen“.
Pekings nukleare Abschreckung basiert zurzeit vor allem auf landgestützten Atomraketen. Etwa 20 von ihnen können aufgrund ihrer Reichweite Ziele in den gesamten USA erreichen. Die jetzt vorhandenen 48 U-Boot-gestützten Atomwaffen haben bisher nur eine Reichweite von rund 7.000 Kilometern. Damit können sie aus den heimischen Gewässern nicht jedes potenzielle Ziel in den USA treffen. Aber China arbeitet daran, auch weiterreichende U-Boot-gestützte Raketen zu entwickeln. „Mit den auf Unterseebooten stationierten Raketen kann China die beiden Kriterien für eine höhere Überlebensfähigkeit im Falle eines Angriffs am besten erfüllen – nämlich Redundanz und Diversifizierung“, meint Michael Paul von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“. Damit verfüge das Land auch in Zukunft über eine relativ sichere Zweitschlagfähigkeit. Es könne so die Politik des Nicht-Ersteinsatzes aufrechterhalten.
China begnügt sich mit einem kleinen Arsenal von Atomwaffen. Denn es geht davon aus, dass es zur Abschreckung eines Angriffs ausreicht, wenn auch nur wenige seiner Atomwaffen zur Vergeltung gegnerische Städte auslöschen können. Auch hat Peking – im Unterschied zu den übrigen Atommächten mit Ausnahme Indiens – zugesagt, niemals als erster in einem Konflikt Nuklearwaffen einzusetzen. An dieser Doktrin hält China weiterhin fest, unterstreicht Kristensen: „Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass China entschieden hat, die Nicht-Ersteinsatzdoktrin aufzugeben. Dass China seine Waffen modernisiert, um die nukleare Vergeltungsfähigkeit zu erhalten, steht dazu nicht im Widerspruch. Auch gibt das Land viel Geld aus, um offensive konventionelle Waffen zu entwickeln.“
Der überwiegende Teil der etwa 1.200 ballistischen Raketen der Chinesen sind mit einem konventionellen Sprengkopf bestückt und gelten als Waffen kurzer und mittlerer Reichweite. Das heißt, sie können nur bis zu 5.500 Kilometer entfernte Ziele treffen. Diese Waffensysteme sind für Konflikte im asiatischen Raum gedacht.
Zwar sind einige atomar bestückte Raketen auch gegen Russland und Indien gerichtet. Aber als Hauptbedrohung für Chinas Sicherheit gelten die USA. Die Vereinigten Staaten sind durch Kriegsschiffe und Stützpunkte unter anderem in Japan, in Südkorea und auf der Pazifikinsel Guam präsent.
Die USA wiederum fürchten, dass die wachsenden Fähigkeiten der chinesischen Streitkräfte ihre eigene militärische Vorherrschaft in der Region in Frage stellen. Pekings Mittelstreckenraketen-Arsenal – ob mit konventionell oder nuklear bestückten Sprengköpfen – schränken die US-Optionen im Falle eines kriegerischen Konfliktes ein. Dieses dürfte ein Grund dafür sein, dass US-Präsident Trump seine Ankündigung, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, auch mit der Bedrohung durch chinesische Raketen gerechtfertigt hat. Denn der INF-Vertrag verbietet nur Russland und den USA den Besitz von landgestützten Mittelstreckenraketen.
Sollten die USA den INF-Vertrag tatsächlich aufgeben, könnten sie landgestützte Raketen eventuell auf dem Gebiet der asiatischen Alliierten stationieren – voraussichtlich ausschließlich konventionell bewaffnete Systeme. Theoretisch könnten die USA nach Aufgabe des INF-Vertrages auch selbst Raketen auf dem US-Stützpunkt Guam stationieren, erklärt Paul. „Allerdings sind derzeit weder entsprechende Rüstungsprogramme geplant, noch nötig, da die USA aus meiner Sicht über eine ausreichende Zahl von see- und luftgestützten Waffensystemen verfügen. Aber wenn sie Druck auf China ausüben wollen, wäre eine entsprechende Aufrüstung denkbar.“
Angesichts des Konfrontationskurses der Trump-Regierung ist das nicht auszuschließen. Die Folgen seien vorhersehbar, warnt Tong Zhao: „Das würde China sicher mit massiven Gegenmaßnahmen, mit der Stationierung von noch mehr Raketen beantworten. Im Ergebnis würde der Rüstungswettlauf in der Region zwischen diesen beiden Mächten noch weiter angeheizt werden.“
Mehr Sicherheit ist dadurch wohl für keine Seite zu erreichen. Eine Alternative wäre, durch Rüstungskontrolle möglichen Gefahren konventioneller und atomarer Aufrüstung im asiatischen Raum zu begegnen. China hat bisher immer erklärt, erst dann zur nuklearen Abrüstung bereit zu sein, wenn die USA und Russland bis auf das Niveau Chinas abgerüstet hätten. Die chinesische Regierung sieht zudem Rüstungskontrolle bisher generell nicht als ein Mittel zur Verbesserung der eigenen Sicherheit an. Diese Einstellung sei aber nicht mehr zeitgemäß, äußert Tong Zhao: „China wird zunehmend zu einem internationalen Player, der auch an Rüstungskontrollabkommen teilnehmen sollte. Es ist im chinesischen Interesse, lieber früher als später ernsthaft über Rüstungskontrolle nachzudenken.“
Rüstungskontrolle in Asien müsse sowohl konventionelle wie nukleare strategische Waffensysteme umfassen und für alle Seiten Vorteile bringen, erklärt Kristensen: „Russland und die USA könnten zum Beispiel zusagen, ihre gegen China gerichteten offensiven Systeme zu beschränken. Das wäre im Interesse Chinas. China könnte dafür seinerseits einwilligen, Waffensysteme zu begrenzen, die Russland sowie die USA und deren Alliierte in der Region bedrohen.“
Eine solche Herangehensweise könnte zwar theoretisch den Weg frei machen für eine Vereinbarung mit China. Doch die Trump-Regierung hat bisher – außer im Falle Nordkoreas – keinerlei Interesse an Rüstungskontrollabkommen gezeigt. Ob die jüngste diesbezügliche Einlassung Trumps einen Richtungswechsel signalisieren könnte, bleibt abzuwarten.

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag des Autors für die Senderreihe „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 01.12.2018).