21. Jahrgang | Nummer 24 | 19. November 2018

Vor 80 Jahren: „Entartete Kunst“ – eine Deutschlandtournee

von Jürgen Lauer

„Fest stand der Entschluss, die dadaistisch-kubistischen und futuristischen Erlebnis- und Sachlichkeitsschwätzer unter keinen Umständen an unserer kulturellen Neugeburt teilnehmen zu lassen. Dies wird wirkungsvollste Folgerung aus der Erkenntnis der Art des hinter uns liegenden Kulturzerfalls sein.“ So Adolf Hitler auf dem Nürnberger Reichsparteitag 1935, zitiert im Ausstellungs-Begleitheft, das die Schau „Entartete Kunst“, von Juli bis November 1937 in München und dann ab Frühjahr 1938 auf einer dreijährigen Wanderung durch 12 Städte begleitete. Dabei hatte Hitler nicht einmal die beiden wichtigsten Stilrichtungen genannt: den Expressionismus und den Surrealismus, und gerade dem Expressionismus galt sein besonderer Hass.
In 101 deutschen Museen wurden unter Leitung des nationalsozialistischen Kulturfunktionärs Adolf Ziegler rund 16.000 Werke als „entartet“ beschlagnahmt. Die wichtigsten mit diesen Werken vertretenen Künstler waren – in diesem Rahmen sind nur wenige zu nennen – Barlach, Beckmann, Chagall, Corinth, Delaunay, Dix, Ernst, Feininger, Gauguin, Grosz, Kandinsky, Kirchner, Klee, Kokoschka, Liebermann, Macke, Marc, Matisse, Miró, Modersohn-Becker, Modigliani, Mueller, Munch, Nolde, Pechstein, Picasso, Schmidt-Rottluff. Welch eine Fülle unterschiedlicher künstlerischer Potenzen, Motivationen, Aussagen und Stile, die der Sammelbegriffe spotten – so wie es nichts aussagt, wenn man beispielsweise den Begriff „Expressionismus“ als gemeinsames Merkmal für Edvard Munch und Ernst Ludwig Kirchner heranziehen will.
Hatten die Nazis bereits in den so genannten Kampfjahren die Kultur der Weimarer Republik wo immer möglich mit dem Begriff „Verfall“ verbunden, so sollte mit dieser Ausstellung weniger der degenerierte Zustand der „Entartung“ beschrieben, als ein aktiver Vernichtungsplan „aufgedeckt“ werden – natürlich von der als untrennbare Zerstörungsmacht ausgemachten Einheit Bolschewismus und Judentum.
Der Maler und Journalist Robert Scholz, mit der Schriftleitung der von Hitler selbst in Auftrag gegebenen Publikationsreihe Die Kunst im Dritten Reich betraut, zog mit der Eröffnung der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ in Berlin eine Bilanz zu der bisherigen Münchener Schau. Nach seinen Worten hatte „Deutschland den Mut, dem deutschen Volke den Umfang der künstlerischen Entartung, so wie sie Deutschland unter der Herrschaft des Marxismus erlebt hat, offen vor Augen zu stellen.“
Auf den eigentlichen Verschwörungshintergrund kommt er schnell zu sprechen: „Die politische Führung hat diese grauenvollen Dokumente künstlerischer Entartung gesammelt […] um einmal eindeutig den inneren Zusammenhang zwischen den Produkten des künstlerischen Verfalls und den politischen Zielen des Weltbolschewismus aufzuzeigen.“ Bei den Zielen handele es sich um einen planmäßigen Anschlag auf das Wesen und den Fortbestand der Kunst und der abendländischen Kultur überhaupt.
Und, da Scholz ein gelehriger Adept der Propagandataktik Hitlers ist, befolgt er dessen Rat, dass nur die immer neue Wiederholung weniger Schlagwörter die träge Masse dazu bringt, sie sich einzuprägen. So wiederholt Scholz die Begriffe „Kunstentartung“ auf drei Seiten elfmal, im Wechsel mit „Weltbolschewismus“, diesen Begriff zehnmal. In diese Wiederholungstrommel streut er Begriffe ein wie „Irrsinnsprodukte“, „Spukgestalten menschlichen Wahnwitzes“, „Undeutsche Machwerke“.
Scholz nennt schließlich die „Angriffswaffen“, die das europäische Chaos herbeiführen sollen: „Eine Gruppe zeigt, wie durch die Verherrlichung des Kretinismus und eine Nachahmung der primitivsten Negerkunst jedes Bewusstsein für das menschliche Schönheitsideal systematisch ertötet wurde.“
Hinter dieser Behauptung stehen die Bemühungen von Künstlergruppen um Matisse, Picasso und Derain sowie der „Brücke“ mit Kirchner, Heckel, Pechstein und anderen, sich mit der afrikanischen Kunst auseinanderzusetzen, indem sie die alte evolutionistische Kulturtheorie des europäischen Ethnozentrismus kritisch hinterfragten, nach der die asiatischen, ozeanischen und afrikanischen Kulturen nur eine minder entwickelte „primitive Naturvölkerkultur“ erzeugen konnten.
„Eine andere Gruppe zeigt, wie unter dem Vorwand einer religiösen Vertiefung das religiöse Gefühl verhöhnt und zu Wahnsinnsekstasen geführt wurde.“ Diese „Schreckensmeldung“ bezog sich vor allem auf Gemälde von Emil Nolde wie „Das Leben Christi“ und „Christus und die Sünderin“, oder auf die „Kreuzabnahme“ von Max Beckmann. „Aufreizung zum Klassenhass, Verherrlichung des Untermenschentums, schmutzigste Erotik waren die Hauptthemen dieser Kunst, die sich in den Dienst des bolschewistischen Kulturnihilismus gestellt hatte.“ Alle Arbeiten, die sich sozialen Themen widmeten, alle Aktdarstellungen, vor allem alle Motive, die sich gegen Krieg und Völkerhass richteten, gehörten zu dieser „Gruppe“.
„Ganz besonders eindrucksvoll sind aber die Gegenüberstellungen dieser sogenannten Kunstwerke mit den Mal- und Modellierversuchen richtiger Geisteskranker der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg. Simulierter und wirklicher Unsinn sind hier nicht mehr zu unterscheiden.“ Für diese Gegenüberstellung zeigt der Ausstellungsführer als „bestes“ Anschauungsobjekt einen Frauenporträtkopf, gezeichnet von einem Geisteskranken, und den Kopf des Schriftstellers Walter Hasenclever, gezeichnet von Oskar Kokoschka, verbunden mit der Frage: „Welche von den Zeichnungen stammt vom Insassen eines Irrenhauses?“ Kokoschka war zu dieser Zeit im englischen Exil, Hasenclever war in demselben Jahr im französischen Exil die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Robert Scholz hatte sich vermutlich nicht mit den kunsttheoretischen Schriften von Paul Klee vertraut gemacht, vor allem nicht mit dem Prinzip des Bauhaus-Dozenten: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“
Er unterstellte ihm, sich in französischen Cafés die Legitimation geholt zu haben, im deutschen Kunstleben eine rücksichtslose Geschmacksdiktatur aufzurichten: „Man machte in Expressionismus und Kubismus, und, wo das französische Rezept nicht ausreichte, half man sich mit der Kunst der wilden Neger. Und dass man Paul Klee einmal als großen Künstler ansehen konnte, wird für künftige Generationen eines der deutlichsten Exempel des völligen geistigen Verfalls der individualistischen Kulturepoche sein.“ Der Vorwurf der „Geschmacksdiktatur“ liest sich besonders bizarr in einer Zeit, die von Hitlers Aussage auf dem Parteitag von 1933 bestimmt war: „Die nationalsozialistische Bewegung und Staatsführung darf auch auf kulturellem Gebiet nicht dulden, dass solche Nichtkönner oder Gaukler plötzlich ihre Fahne wechseln und so als ob nichts geschehen wäre, in den neuen Staat einziehen […]Auf keinen Fall wollen wir den kulturellen Ausdruck unseres Reiches von diesen Elementen verfälschen lassen; denn das ist unser Staat und nicht der ihre.“
Was aber wurde gleichzeitig mit der Schau „Entartete Kunst“ in der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ im Münchener „Haus der deutschen Kunst“ gezeigt? „Die Malerei im Dritten Reich, die von Thomas Mann als ‚höheres Kunstgewerbe‘ verspottet wurde, wandte sich ausschließlich dem Gegenständlichen zu, nachdem die Moderne gerade Bildinhalte zugunsten formalisierender Tendenzen zurückgedrängt hatte. Die traditionelle Gattungsmalerei lebte wieder auf, […] wobei die NS-Ikonographie das Tier- und Landschaftsbild, die Bauern- und Handwerkerbilder, die Porträts, Akte und Allegorien mehr und mehr durch „realistische“ Kriegsbilder und Industriemalerei zurückdrängte, die ganz und gar nicht traditionalistisch waren“, schreibt Peter Reichel in „Der schöne Schein des Dritten Reiches“.
Hatte das Organ der Kunstfunktionäre Die Kunst im Dritten Reich der Ausstellung von 1937 noch bescheinigt, dass deutsche Künstler Zeugnis ablegten von der wiedererwachten Kraft des Kunstschaffens, lautete die Losung für 1938 schon erheblich näher an der Realität: „Die erste Schau […] war ein Anfang – die kommende muss ein Fortschritt sein.“
Denn Hitler als oberster Schutzherr der nationalen Kunst musste bald hinnehmen, dass die großzügig geförderten Maler und Bildhauer auch in den folgenden Ausstellungen nicht viel mehr zustande brachten als „martialisches Biedermeier“, um ein Wort von Joachim Fest zu verwenden. Und viele dieser Künstler der Nazizeit mussten hinnehmen, dass nach dem Krieg ihre künstlerischen Erzeugnisse als verpönte „Nazikunst“ dasselbe Schicksal erlitten wie vordem die Werke der Expressionisten, Surrealisten und Vertreter der Neuen Sachlichkeit: sie wurden verfemt. Aber das ist ein anderes Thema.