21. Jahrgang | Nummer 23 | 5. November 2018

Erlesenes – Von Shylock, der Päpstin Johanna und einem Insektenfreund

von Wolfgang Brauer

Es gibt das alte Bonmot, dass die Geschichte immer von den Siegern geschrieben werde – und ihre Bücher auch entsprechend aussähen. Die Sieger sind bis auf den heutigen Tag zumeist Männer. Das Bild der Kaiserin Theodora von Byzanz (500–548) prägte der Chronist Prokopios von Caesarea, der diese Frau hasste und sie uns als Hure überlieferte. Es handelte sich um die Gattin Iustinians. Prokopios überlebte Theodora um 14 Jahre. Für die Zeit der römischen Senatorin Marozia (etwa 892–932) wird bis heute gerne der Begriff „Pornokratie“ benutzt. Schuld daran ist ausgerechnet der begnadete Geschichtsschreiber Liutprand von Cremona (920–972), der auch Marozia als „schamlose Hure“ verunglimpfte. Aber auch der war Partei. Liutprand war Vertrauter des Sachsenkaisers Otto I. und dessen zweiter Ehefrau Adelheid, mit der ihn ein persönlicher Erzfeind verband, der italienische König Berengar II. – Liutprand haben wir das überaus positiv erinnerte Bild der Adelheid zu verdanken. Er hatte wohl auch einen entscheidenden Anteil an der Eheschließung von Otto II. mit der byzantinischen Prinzessin Theophano. Auch die stand wie fast alle Ottonen mit der römischen Oligarchie auf Kriegsfuß. Für das Mittelalter ist diese Floskel wörtlich zu nehmen. Für den Adel Latiums hingegen – zu dem Marozia gehörte– war der Papst in erster Linie der Bischof der Römer. Für das sächsische Kaisertum war der Papst de facto sein Spitzenbeamter.
Der Historiker Klaus Altmayer hat kürzlich bei Marix einen Band vorgelegt, in dem er diesen „starken Frauen“ der „dunklen Jahrhunderte“ des Mittelalters kenntnisreiche und spannende Portraits widmet. Er nannte seinen Band „Die Papstmacherin“ und meint damit natürlich Marozia. Die hievte ihren ältesten Sohn 931 als Johannes XI. auf den Stuhl Petri. Alberich II., ebenfalls Sohn der Marozia – aber mit einem anderen Vater –, setzte beide 932 gefangen. Marozias Zeit ging zuende, aber immerhin hatte sie – abgesehen von gelegentlichen Unterbrechungen durch die militärisch in der Regel sehr robust daherkommenden Besuche der Ottonen – seit 914 die Geschicke des Kirchenstaates bestimmt. Züge ihrer Biographie flossen überdeutlich in die nebulöse Geschichte der „Päpstin Johanna“ mit ein. Mit dieser beendet Altmayer seinen faszinierenden Spannungsbogen, in dem auch die byzantinische Kaiserin Irene und die „Wahl“-Magdeburgerin Theophano zu ihrem Recht kommen. Dass in der Übergangszeit vom Früh- zum Hochmittelalter Frauen politisch nur eine untergeordnete Rolle spielten, wird vom Autor eindrucksvoll widerlegt. Die Verzapfer der Degeto- und ZDF-Historienschinken dürften sich über Altmayers Buch ärgern. Die Wirklichkeit war stets entschieden dramatischer. Der Band macht Lust auf Geschichte.

Klaus Altmayer: Die Papstmacherin. Starke Frauen des frühen Mittelalters, Marix Verlag, Wiesbaden 2017, 276 Seiten, 24,00 Euro.

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2014 konnte ich Hermann Sinsheimers „Gelebt im Paradies“ als ersten Band einer dreiteiligen Werkausgabe des von den Nazis ins Exil getriebenen Publizisten vorstellen. Sinsheimer gehörte zu den vielen, die Hitler „nicht ernst genug genommen“ haben, wie Wolfgang Klein damals zu Recht in einem replizierenden Artikel feststellte. Stefan Großmann – 1920 Mitbegründer und bis 1927 Chef der radikal-demokratischen Zeitschrift Das Tage-Buch – erzählte dieses Total-Versagen der Weimarer Journalistik exemplarisch in seinem „Wir können warten oder Der Roman Ullstein“. Ebenso wie die Sinsheimer-Ausgabe veranstaltete die Edition von Großmanns Roman der Verlag für Berlin-Brandenburg. Jetzt liegt, herausgegeben von Deborah Vietor-Engländer und Jonathan Skolnik, der zweite Band dieser Werkausgabe vor. Er bebeinhaltet inhaltet Beiträge, die Sinsheimer vom Juni 1934 bis Mai 1938 für jüdische Zeitschriften hauptsächlich in Berlin schrieb. Deutschland konnte er erst mit Hilfe Recha Freiers (der 1984 verstorbenen Begründerin der Kinder- und Jugend-Alija, die mit ihrer Organisation 7600 junge Menschen durch die Auswanderung nach Palästina retten konnte) verlassen. Er ging nach Palästina, drei Beiträge des Bandes sind Zeugnisse dieses Aufenthaltes. Dort wurde er nicht heimisch. Am 6. Juni 1938 kam er endlich in England an. Im Gepäck hatte er das Manuskript eines großen Essays, das für mich das Gewicht dieses Bandes ausmacht: „Shylock. Die Geschichte einer Figur“.
Natürlich geht es um Shakespeares Zentralfigur des „Kaufmanns von Venedig“, eine bis auf den heutigen Tag äußerst umstrittene Gestalt mit beträchtlichem Potenzial für floppende Inszenierungsversuche. Kann man das Ding heute überhaupt noch spielen? War Shakespeare Antisemit? Immerhin entstand das Stück um 1594 herum, als London im Umfeld der vom Grafen Essex, dem Favoriten der Königin Elisabeth I., betriebenen Hinrichtung ihres Leibarztes Roderigo Lopes Schauplatz einer Antisemitismus-Welle wurde, in deren Folge die letzten dort noch lebenden Marranen das Königreich verließen. Sinsheimer weist nach, dass etliche Züge der Persönlichkeit Lopes’ – und anderer – in die Figur Shylocks einflossen. Aber darum ging es ihm nicht. Ihn interessierte das Phänomen eines Antisemitismus ohne Juden, Edward I. hatte die englischen Juden bereits 1290, begleitet von heftigen Pogromen, aus dem Reich jagen lassen. Und vor allem interessierte ihn, weshalb ausgerechnet eine Person wie Shylock, der das Gold um des Goldes Willen vergötterte und dessen eigene Tochter Jessica vor ihm flüchtete, neben dem „ewigen Juden“ Ahasver zu einem Stereotyp „des Juden“ in der christlich geprägten europäischen Kultur werden konnte.
Der Autor legt dazu Schicht um Schicht der Geschichte der Judenverfolgungen und vor allem ihrer Reflexion in der englischen Literatur frei. Das ist spannend zu lesen. Sinsheimer verweist dabei auch auf die verheerenden Langzeitfolgen des Klassikers der englischen Literatur, Geoffrey Chaucers „Canterbury Tales“, und eines Machwerkes von Shakespeares Zeitgenossen Christopher Marlowe („Der Jude von Malta“). Aber er schürft tiefer. Shylock ist nicht der geldverleihende Raffke. Für das Dreitausend-Dukaten-Darlehen, eine damals gewaltige Summe, will er eben keine Zinsen! Dafür aber im Falle der Zahlungsunfähigkeit Antonios das berühmte Pfund Fleisch „nahe beim Herzen“. Sinsheimer sieht Shakespeares Stück an der Bruchkante zwischen Mittelalter und Neuzeit verortet. Die „Dämonie der Shylockfigur“ besteht für ihn darin, „daß in ihr Jahrhunderte alte Erinnerungs- und Vorstellungsreihen auf eine realistische Ebene gehoben werden, daß in sie das Licht einer scharf umrissenen Gestalt einbricht“. In Shylock wirkt für Hermann Sinsheimer „der Mythos vom Juden“. Angesichts der nur ein Jahr nach dem Setzen des Schlusspunktes seines Essays beginnenden Shoa ist die Sinsheimersche Konstruktion des Mythos wohl zerbrochen. Auschwitz überlagert alles.

Hermann Sinsheimer: Shylock und andere Schriften zu jüdischen Themen (Hermann Sinsheimer, Werke in drei Bänden, Herausgegeben von Deborah Vietor-Engländer, Band 2), Quintus, Berlin 2017, 472 Seiten, 25,00 Euro.

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Im Frühjahr geriet ich durch Zufall in ein wundersames, aus Sicht heutiger Didaktik-Päpste sicherlich nur als Rumpelkammer durchgehendes Klassenzimmer aus alten Zeiten. Ich fühlte mich angenehm an die Jahre erinnert, in denen wir uns heimlich und verbotenerweise in noch existierende Naturalienkabinette heute längst abgerissener Schulhäuser einschlichen. Die sahen genauso aus, und ihnen verdanke ich meine Liebe zu den Naturwissenschaften. Das erwähnte Klassenzimmer kann besichtigt werden. Es nennt sich „Schule der Insekten“ und gehört zum „Insektenkunst-Museum“ eines Zauberers namens Deny Lavoyer in La Petite Pierre, einem verwunschenen Städtchen in den nördlichen Vogesen. Das Allerheiligste dieses Museums ist das „Büro des Entomologen“, eine Nachbildung des Arbeitszimmers von Jean-Henri Fabre (1823–1915) in Sérignan-du-Comtat bei Orange. Fabre veröffentlichte zwischen 1879 und 1907 in zehn Serien seine „Souvenirs Entomologiques“ („Entomologische Erinnerungen“), in denen er ein ganzes Kapitel seiner Schule widmet. Fabres Schule, übrigens auch die, an der er später als Mathematiklehrer sein Brot verdiente, war eine Schule der geistigen Entbehrungen. Aber „seine“ Schule gab ihm Anregungen, sie verschüttete nicht die im Kind angelegten Keime. Ihre Kargheit provozierte die kindliche Neugier. Genau das muss Schule leisten. Fabre schreibt voller Liebe über sie. Eine schöne Auswahl seiner „Souvenirs“ erschien 1987 bei Artemis Zürich und München unter dem Titel „Das offenbare Geheimnis“. Ein zweiter Band folgte 1989: „Wunder des Lebendigen“. Darin finden sich erstaunenswerte und zutiefst poetische Mitteilungen zum Beispiel über den Rebenstecher, die Baukunst der Mörtelbiene, die Dolchwespe und das Liebesleben des Eichenspinners. Und eben der anrührende Text „Aus meiner Schulzeit“. Antiquarisch sind die Bände leicht erhältlich.