von Edgar Benkwitz
Seit geraumer Zeit werden ausländische Staatsgäste in Neu Delhi mit einer intensiven Umarmung durch den indischen Premierminister begrüßt. Diese „Bären-Umklammerung“ – wie die Presse witzelt – durch Narendra Modi musste auch der russische Präsident Putin ertragen, als er am 5. Oktober in Neu Delhi eintraf. Stärker als dieses Ritual wirkten auf die Öffentlichkeit allerdings die Ergebnisse der mittlerweile 19. Regierungskonsultationen zwischen beiden Staaten. Sie entsprachen in hohem Maße den Wünschen der indischen Gastgeber. Dazu gehören der Bau weiterer Kernkraftwerke, die Aufrüstung des indischen Schienennetzes sowie die Unterstützung der angekündigten bemannten indischen Weltraummission Gaganyaan. Indien sieht vor, bis 2022 drei Astronauten („Indonauten?“) in den Weltall zu schicken, die sieben Tage lang die Erde in 300 bis 400 Kilometer Höhe umkreisen sollen. Die Rakete vom Typ GSLV MK-III wird mit einem experimentellen Modul seit 2014 getestet. Die indische Weltraumbehörde ISRO und die russische ROSKOSMOS unterzeichneten jetzt einen Vertrag, der neben gemeinsamen Aktivitäten im Weltraum eine Unterstützung des Gaganyaan-Projekts durch Russland vorsieht.
Spektakulär ist auch die vorgesehene Lieferung von fünf Batterien des Raketenabwehrsystems S-400 Triumf. Dieses mobile Boden-Luft-Raketensystem gilt weltweit als das technologisch fortgeschrittenste. Es ist ein „wahres Höllensystem“, meinte der deutsche Militärexperte Ulrich Kühn gegenüber n-tv. Und weiter: „Es hat eine Reichweite von 400 Kilometern, kann in bis zu 27 Kilometer Höhe alles treffen und 300 Ziele gleichzeitig anpeilen. Egal ob Kampfflugzeuge, Jagdbomber, Tarnkappenbomber, unbemannte Flugobjekte, hochfliegende Maschinen wie AWACS-Aufklärungsflugzeuge – es holt alles runter.“ Es ist vor allem auch gegen angreifende ballistische Kurz- und Mittelstreckenraketen gerichtet.
Russland verwendet dieses System zum Schutz seines Landes. Exportiert wurde es bisher nur nach China und Weißrussland. Pressemeldungen sprechen von Verhandlungen mit arabischen Ländern, mit der Türkei wurde trotz NATO-Protest ein Liefervertrag abgeschlossen. Indien ist seit längerem an einem Erwerb interessiert, doch die Verhandlungen zogen sich hin. Eventuell war das dem Einspruch Chinas gegenüber Russland geschuldet, das auf seinen Vorteil gegenüber Indien nicht verzichten wollte. Jetzt steht die angedrohte Sanktionspolitik der Trump-Administration im Raum. Danach verpflichtet ein Gesetz den US-Präsidenten, Sanktionen gegenüber Staaten zu verhängen, die hochsensible Rüstungsgüter von Russland erwerben. China bekam das schon zu spüren, unter anderem für den Erwerb eben dieses Abwehrsystems.
Die Lieferung der Batterien wird in den nächsten 54 Monaten stattfinden, ist also in viereinhalb Jahren abgeschlossen. Das Geschäft erregte international Aufsehen, wirft es doch ein ganzes Bündel von Fragen auf. Nicht nur, weil es die strategische Interessenlage mehrerer Staaten berührt, sondern auch, weil es die Rüstungsspirale zwischen den beiden verfeindeten Atommächten Indien und Pakistan weiter anheizt.
Für Russland ist es ein gutes Geschäft, denn der Wert der Lieferung beläuft sich auf 5,43 Milliarden US-Dollar. Zudem wurde die Kontinuität der Waffenlieferungen an Indien bestätigt, die zuletzt in Zweifel geraten war. Mit Indien hat sich aber vor allem ein großer Staat der US-Sanktionspolitik widersetzt, was Russland natürlich als politischen Erfolg auch für sich verbucht. Die Beziehungen Russlands zu China dürften auch berührt worden sein, denn China sieht ungern, dass Indien, egal von wem, militärisch gestärkt wird.
Doch bei einer Nichtlieferung russischer Waffen an Indien stehen die USA oder andere westliche Staaten zur Verfügung, das weiß China. Also beißt es lieber in den kleineren sauren Apfel. Möglicherweise hat es im Vorfeld des Vertragsabschlusses Absprachen zwischen Russland und China gegeben, die die Lieferung des Systems nach Indien mit Bedingungen zu dessen Standort verbunden haben. Die Behauptung deutscher Medien, dass die S-400 an der Grenze zu China stationiert wird, dürfte voreilig sein. Beim gegenwärtigen guten Stand der Beziehungen zu China würde Russland wohl kaum seine Zustimmung gegeben haben.
Die USA scheinen in dem „deal“ vorerst der Verlierer zu sein. Trotz intensiver Bemühungen auf politischer Ebene konnten sie nicht verhindern, dass Indien hochmoderne Waffen von Russland bezieht. Ihre Sanktionspolitik wird damit durchlöchert. Bereits in den letzten Monaten zeichnete sich ab, dass die USA diese Tatsache akzeptieren müssen. Es ist jetzt die Rede von einem „waiver“, einer Ausnahmeregelung für verbündete Mächte, die auch gegenüber Indien angewandt werden könnte. Doch das letzte Wort hat der US-Präsident. Mehrfach nach seiner Meinung über Sanktionen befragt, äußerte er am 11. Oktober gegenüber Journalisten, dass Indien das „sehr bald“ herausfinden werde. Das habe einen „bedrohlichen Klang“ kommentiert die Times of India. Auf alle Fälle ist zu erwarten, dass die USA Zugeständnisse von Indien in für sie wichtigen Fragen verlangen werden.
Für die indische Regierung – so ihr Sprecher – ist der Erwerb des Waffensystems ein „dringendes nationales Sicherheitserfordernis“, auf das das Land nicht verzichten kann. Das kann als Hinweis verstanden werden, dass das Abwehrsystem gegenüber Pakistan in Stellung gebracht werden wird, dessen Kurz- und Mittelstreckenraketen von Indien als ernste Bedrohung angesehen werden.
Erstaunlich ist das Selbstbewusstsein, mit dem das aufstrebende Schwellenland Indien gegenüber den USA auftritt. Die Amerikaner müssen das akzeptieren, denn für ihre politischen Absichten im Raum Pazifik/Indischer Ozean ist Indien strategisch nicht ersetzbar. Es ist ein Eckpfeiler, den man stärker an sich binden möchte, auch unter dem Preis von Zugeständnissen. Zugleich lockt es mit seinen hoch entwickelten Waffensystemen, deren Lieferung allerdings mit einer Vereinbarung über die Akzeptanz des Communications Compatibility and Security Agreement (COMCASA) verbunden ist. Das ist ein Verschlüsselungs- und Kommunikationssystem des US-Militärs und seiner Verbündeten, das automatisch alle ermittelten Informationen austauscht. Trotz großer Vorbehalte – da ein Abfluss sensibler Daten befürchtet wird – hat die indische Regierung dieses Abkommen Anfang September mit den USA unterzeichnet. Sie kann zwar jetzt die gewünschten See-Überwachungsdrohnen vom Typ Predator kaufen, ist aber logistisch in das Netzwerk des US-Militärs eingebunden.
Die forcierte militärische Stärkung Indiens sowie das Bemühen, die Politik der rivalisierenden Mächte um Einfluss in Südasien dafür verstärkt auszunutzen, wirft die Frage auf, ob Indien diesen Kurs auch weiterhin verfolgen kann oder doch früher oder später gezwungen sein wird, Partei zu ergreifen. Natürlich hängt das von den internationalen Umständen ab, aber auch von der Stärke des Landes selbst. Die gegenwärtigen inneren als auch äußeren Verhältnisse scheinen dieser Politik recht zu geben. Doch angesichts der Armut und der auf Lösung drängenden riesigen sozialen Probleme stellt sich die Frage, ob Indien in diesem Machtgerangel um Einfluss und Vorherrschaft mithalten muss. Braucht es überhaupt solche modernen Waffensysteme wie das S-400, oder gar Kernwaffen, ballistische Raketen, Flugzeugträger und U-Boote? Nur China ist in Asien umfassender aufgerüstet. Genau das ist aber für die herrschende Elite des Landes der entscheidende Punkt. Indien komme mit seiner großen Landmasse, seiner geostrategischen Bedeutung, seinen Ressourcen und seiner Milliardenbevölkerung ein Großmachtstatus zu, ist zu hören. Unabdingbar dafür sei seine militärische Stärke.
Man könnte dieser Argumentation zustimmen, wenn dieses Großmachtstreben auch die Lösung der im Land bestehenden Armut und der tiefen sozialen Probleme beinhaltet. Doch davon ist das heutige Indien weit entfernt.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Großmachtstreben, Indien, Raketenabwehrsystem S-400, Russland, USA, Waffenlieferungen