21. Jahrgang | Nummer 21 | 8. Oktober 2018

Reaktionär

von Heino Bosselmann

Mein Leben habe ich mittlerweile etwa je zur Hälfte in der DDR und der aus der sogenannten Wende – per „treuhänderischem“ Zugewinn des Beitrittsgebiets – erwachsenen Berliner Republik verbracht. Ich bin einer der Ewiggestrigen, die nie angekommen sind. Das stelle ich lediglich resümierend und keinesfalls resigniert oder gar verbittert fest.
Ehrlich gesagt komme ich überhaupt ungern irgendwo an. Mit einem skeptisch kopfschüttelnden Lächeln sehe ich mich als Reaktionär, der sich nicht damit abfinden wird, dass die Quantifizierung des Menschen und seiner maßlosen Bedürfnisse – forciert von den Möglichkeiten der digitalen Revolution – über allem steht, beispielsweise über seiner qualitativen Verantwortung für den Lebensraum, die Mitgeschöpfe und den ganzen Planeten. In gewissem Sinne dürfte schon die antike Stoa als reaktionär gelten können, und der durch allerlei Verluste so befreit wirkende Hans im Glück sowieso.
Dass sich das Leben zwischen den überbordenden „Angeboten“ eines Super-Marktes mehr denn je auf das Verbrauchen und Stoffwechseln reduziert, dass es mittels Normungen und Algorithmen nivelliert und gleichgeschaltet wird, dass Marketing, „Performance“ und Präsentation vor Inhaltlichkeit und Substanz kommen, dass die Peripherie immer bunter, die Kerne aber fauler und hohler werden, das alles muss nach den Bedingungen von Ökonomismus und Konsumismus offenbar unausweichlich so sein, nur liegt mein bescheidener Luxus darin, mich dem weitestgehend zu verweigern.
Alles, was ist und geschieht, mag rein kausal determiniert sein. Genau das wird einem von all den mitmachenden und mitlaufenden Klugwichten voller Häme entgegengehalten: Du änderst die Welt nicht! Oder kürzer noch: Das rechnet sich nicht! Politik etwa kommt über Buchhalterei schon gar nicht mehr hinaus.
Bertrand Russell schrieb in seiner „Philosophie des Abendlandes“: „Wenn die Welt vollkommen determiniert ist, dann werden die Naturgesetze bestimmen, ob ich tugendhaft sein werde oder nicht“. Mag gar so sein. Und dennoch finden sich in all der Enge unserer Handlungs- und erst recht Willensfreiheit Spielräume, die etwa Pierre Hadot kennzeichnet, wenn er meint, durch sein Sprachvermögen gelange der Mensch in „ein anderes Universum, welches nicht von derselben Art ist wie das Universum des Sinnes und Wertes. […] Der Wert der Dinge hängt damit von der moralischen Haltung ab, die wir ihnen gegenüber einnehmen. Philosophie besteht also genau darin, zu wählen, sich die Dinge in einer bestimmten Art und Weise vorzustellen“.
Ähnlich übrigens bei Peter Bieri, dessen Buch „Das Handwerk der Freiheit“ man gar nicht genug empfehlen kann, und der ähnlich beschrieb, inwiefern Denken und Sprechen noch Akte der Freiheit sein mögen. – Man benötigt dafür übrigens weder Metaphysik noch Erweckung und Himmelfahrten, sondern nur einen Verstand, der den Mut hat, auf Abstand zu gehen, um solcherart kritisch zu werden.
Dem Kommunismus war es aus bekannten Gründen – zum Glück! – nicht möglich, eine Weltgemeinschaft zu begründen, aber in der Vermarktwirtschaftlichung von allem und jedem sowie unter Mithilfe von „Big Data“ wird dies unausweichlich gelingen. Wir sind voll dabei und rechtfertigen das allein utilitaristisch, also mit unserer gängigen Gerechtigkeitsvorstellung, dass gut ist, was das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl sicherstellt.
Jeremy Benthams Handlungsutilitarismus wurde zu regelutilitaristischen Systemen verfeinert, als neuzeitlich-bürgerliches Nützlichkeitsdenken, das aufklärerisch mit dem Impetus der Menschheitsbefreiung auftrat – und diese nach modernen Auffassungen durchgesetzt hat. Die USA etwa handeln rein utilitaristisch. Grundsatz blieb: Größtmögliche Zahl, größtmögliches Glück. Beides sehr problematische Indikatoren, jedoch passend zur Generation Smart-Phone. Folgerichtig, dass aus ethischen Gründen immer häufiger zum radikalen Widerstand gegen die digitale Ausbeutung aufgerufen wird.
Aber alle Welt sehnt sich nach der Discounterversorgung und Vernetzung innerhalb der Regularien des Marktes und nach „Demokratie“, die ja nichts anderes ist als Politik gewordener Utilitarismus mit den Garantien der Bürger- und Menschen-, heißt auch der Egoistenrechte. Ist Nordkorea erst Beitrittsgebiet für Südkorea, werden die Bürger nach ideologischer Entwöhnung auch dort vor allem einkaufen gehen und Verbraucher sein. Verständlich. Noch immer habe ich meine ehemaligen Landsleute aus der DDR vor Augen, wie sie mit ihren Nylon-Beuteln im Westen unterwegs waren und sich die hundert Mark „Begrüßungsgeld“ einteilten. Sie ahnten, dass sie jetzt, im Wesen damals Wirtschaftsasylanten so wie jetzt die Geflüchteten, Verwertungsmasse geworden waren. Und akzeptierten dies.
Gesiegt haben allenthalben die Quantifizierungen. Hinter ihnen bleiben die Qualifizierungen weit zurück, nicht nur innerhalb der Bildung, die hierzulande nach traditionellen oder gar klassischen Vorstellungen rein gar nichts mehr mit dem zu tun hat, was der hohe Begriff einst umschrieb. Dass es kein Zurück gibt, weil alles „folgerichtig“ geschah und so und nicht anders geschehen musste, habe ich zu akzeptieren, aber ich muss mich dessen nicht freuen. Es ist das Vorrecht des Reaktionärs, sich innerlich widerwärtigen Zeitläufen zu verweigern, auch wenn er in dieser Haltung immer skurriler und absurder wirkt.
Zu den Garantien der Bürger-, also der Egoistenrechte gehört im Fußnotenbereich des Kleingedruckten wenigstens noch die Möglichkeit, bei der großen Oralfixierung auf Verbrauch und Gedöns nicht um jeden Preis mitmachen zu müssen. Die wenigen, die sich dem vollständigen Durch- und Zugriff des Marktes auf ihre Person renitent verweigern, nehmen so eine Position ein, die zuweilen als kleines Beispiel gar den vielen hilft, die innerhalb der Reproduktionskreisläufe so bündig mit dem Markt identifiziert aufgehen, dass sie sich völlig verlieren und daran unweigerlich zu kranken beginnen. Je toller der „Erfolg“ umso länger die Wartezeiten für psychiatrische Behandlungen.
Der Liberale hat es übrigens einfacher als der Reaktionär. Er ruft historisch in einer kurzen Barrikadenphase nach der Freiheit der Person und des Wettbewerbs. Ist beides garantiert, folgt er der Regel „Gewinne privat, die Schulden zum Staat!“, überlässt das meiste dem Markt und hält es für naiv, über soziale und kulturelle Kollateralschäden nachzudenken. Was für ein beneidenswerter Optimismus! Wobei der moderne Liberale heutzutage weder auf die Barrikade muss noch obligatorisch seine Leistungsträgerschaft nachzuweisen hat, sondern sein Selbstverständnis eher aus dem ererbt angestammten Vermögen bezieht, das am Markt und vorzugsweise am Finanzmarkt härter arbeitet als er selbst. Was auch erklärt, warum das kahlgeschlagene Ostdeutschland außerhalb seiner Leuchtturmregionen so wenig selbstgewisse Liberale aufbietet.
Während der Linke also nach wie vor vom guten Menschen träumt, dem nur die Bedingungen miserabel eingerichtet wurden, und während der Liberale in der freien Entfaltung des Marktes seinen Schnitt machen will, grantelt der Reaktionär herum und pflegt einen intellektuellen wie moralischen Skeptizismus, mit dem er nur in kleinen Zirkeln landen kann, wo man sich Schopenhauer und Cioran vorliest. Jedenfalls solange, wie die anderen den GAU ihres Systems vermeiden. Unausweichlich tritt der immer mal wieder ein, weil im Zuge des bloßen Funktionierens die Euphorie in dem Maße wächst, wie Kritik an Maßlosigkeit ausgeschlagen wird.
Deshalb fürchtet der Liberale die Krise, während der Reaktionär doch stets auf sie hofft und ihrer bedarf. Es blähen sich ja nicht nur die Blasen an der Börse, sondern in Bezug auf die Phrase ebenso jene in der Politik. Bis sie platzen und es einigermaßen konservativ wieder mal ans Aufräumen geht.