von Ulrich Busch
Am 3. Oktober 2018 feiert die Republik das 28. Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung. Im Osten wird die Feier jedoch von ausländerfeindlichen Ausschreitungen, rechtsextremistischer Randale, Pegida-Demonstrationen und Wahlerfolgen der AfD überschattet. Wie passt das zusammen? Nach offizieller Lesart überhaupt nicht. Aber vielleicht ist das falsch und ist der Schlüssel für die Erklärung der politischen Protesthaltung im Osten gerade auch in den Erfahrungen der Menschen seit 1989/90 zu suchen? Petra Köpping, Integrations- und Gleichstellungsministerin in Sachsen, hat 2016 in Leipzig eine viel beachtete Rede über Politikverdrossenheit, Ausländerfeindlichkeit und Rechtspopulismus in Ostdeutschland gehalten. Sie vertrat die Meinung, dass diese Phänomene nur die „Projektionsfläche für eine tiefer liegende Wut und Kritik“ seien, insbesondere für die mannigfachen Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, die die Menschen im Osten in der Nachwendezeit erfahren haben. Damit hat sie eine Debatte angestoßen, die bis heute anhält – und das nicht nur in Sachsen.
Die Reaktionen auf ihre Rede und die sich seitdem weiter zuspitzenden Auseinandersetzungen auf der Straße und in den Plenarsälen haben sie veranlasst, ein Buch darüber zu schreiben, über die Ungerechtigkeiten, Benachteiligungen und Kränkungen Ostdeutscher in der Nachwendezeit, ihre aufgestaute Wut und den daraus erwachsenden Hass auf Westdeutsche, Fremde und die Politik überhaupt. Vor allem aber über die Notwendigkeit, das alles aufzuarbeiten und zur Sprache zu bringen, damit es endlich überwunden werden kann. Das auf diese Weise entstandene Buch ist ein politisches, kein wissenschaftliches. Zudem ist es sehr persönlich gehalten, indem es sich hauptsächlich an subjektiven Wahrnehmungen und Eindrücken orientiert und objektive Sachverhalte eher punktuell als systematisch heranzieht.
Einige sehen in der Initiative von Petra Köpping ein unterstützungswertes Anliegen. Andere glauben, dass damit die Büchse der Pandora geöffnet werde. Tatsache aber ist, dass es über die angesprochenen Probleme bislang keinen sachlich ausgewogenen Ost-West-Dialog gibt, sondern lediglich eine einseitig an westlichen Interessen orientierte und inhaltlich wie personell von westdeutscher Seite dominierte und daher an Vorurteilen und Tabus reiche Darstellung. Die soll nun durch die ostdeutsche Sicht der Betroffenen ergänzt oder durch die unvoreingenommene Aufarbeitung der Fakten ersetzt werden. Für letzteres Anliegen bietet die jetzt begonnene Aufbereitung und Öffnung der Akten der Treuhandanstalt eine gute Gelegenheit. Als etwas problematisch erweist sich jedoch, dass bei der Forderung nach schonungsloser Aufarbeitung zwischen der gefühlsbetonten und teilweise „vernebelten Erinnerungskultur“ ostdeutscher Zeitzeugen einerseits und wissenschaftlichen Recherchen andererseits nicht genügend unterschieden wird. Überhaupt entsteht bei der Lektüre der „Streitschrift“ der Eindruck, dass hier vor allem „Balsam“ für die verletzten ostdeutschen Seelen verabreicht werden soll.
Aber genügt das, um die von der deutschen Einheit enttäuschten und aufgebrachten Gemüter zu beruhigen und zu heilen? Wohl kaum! Wenn schon Aufarbeitung, dann sollte sie sachgerecht und absolut faktenorientiert erfolgen. Nur auf dieser Grundlage ließen sich die Einheitsmythen und die Legenden über die DDR und die BRD widerlegen und könnte man zu einer Geschichtsdarstellung gelangen, die annähernd der historischen Wahrheit entspricht. Davon ist dieser Vorstoß aber noch weit entfernt.
Das zeigt sich in vielen Einzelfragen, beispielsweise bei der Behandlung der Transferzahlungen für Ostdeutschland, die im Westen gern als „Einheits-Opfer“ oder als uneigennützige Solidaritätsleistungen apostrophiert werden. Dem hält die Autorin entgegen, dass die Transfers vor allem dem Absatz westdeutscher Produkte dienen und in den alten Bundesländern einen Konjunkturschub ausgelöst haben. Zweitens betont sie, dass die in die Sanierung der Städte und den Neubau mit staatlicher Förderung investierten Mittel zu einer Zunahme vor allem westdeutschen Eigentums geführt haben, während die ostdeutsche Bevölkerung Pacht und Mieten zahlt. Drittens gilt es zu berücksichtigen, dass der Gewinntransfer aus dem Osten inzwischen den Finanztransfer übersteigt, so dass die Nettogewinner im Westen sitzen.
Richtig ist auch, dass der Leistungsumfang der in den Westen abwanderten Ostdeutschen die Summe der Transferzahlungen bei Weitem übertrifft. Und nicht zuletzt ist daran zu erinnern, dass es im Zusammenhang mit der Privatisierung des ostdeutschen Produktiv- und Immobilienvermögens einen „enormen Vermögenstransfer von Ost- nach Westdeutschland“ gab, der nie quantifiziert worden ist, über den man aber auch einmal reden müsste. Im Buch finden sich sogar Belege dafür, beispielsweise das nach 1990 gestiegene und inzwischen mehr als zwanzigmal so hohe Erbschaftsteueraufkommen pro Kopf in Hamburg gegenüber dem in Sachsen oder die Tatsache, dass das reichste eine Prozent der Bevölkerung in Sachsen immer noch so „arm“ ist, dass es keine Reichensteuer zu zahlen braucht, während in Düsseldorf, Hamburg oder München die Anzahl der Millionäre explodiert. Die Tatsachen sprechen für sich.
Trotzdem gibt Frau Köpping zu bedenken, ob die Ostdeutschen nicht „undankbar gegenüber den Transferleistungen“ gewesen seien? – Nun ja, da fragt man sich schon: Ist dies bloße Naivität oder fehlt es hier vielleicht doch an ökonomischem Sachverstand?
Die gebrochenen Biografien vieler Ostdeutscher, deren Demütigung und Kränkung in der Nachwendezeit sind eine Tatsache. Die verschwindet nicht, auch nicht nach drei Jahrzehnten, sondern wird als „Gefühl“ von Minderwertigkeit, Schmach und Verlust an die nächste Generation weitergegeben. Dass sich dieses Gefühl bis heute reproduziert und dass es mitunter völlig unangemessen in politischen Aktionen artikuliert wird, ist aber vor allem dem Tatbestand geschuldet, dass nach 1990, im Zuge der Neustrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft, des Elitenaustauschs und der Abwanderung Hunderttausender Ostdeutscher, Fakten geschaffen wurden, materielle Fakten, die bis heute das Leben der Menschen bestimmen. Und diese Fakten lassen sich durch keine noch so gelungene „Aufarbeitung“ in Gesprächskreisen und politischen Veranstaltungen wieder aus der Welt schaffen. – Das Unmögliche trotzdem angesprochen zu haben ist mutig und anerkennenswert. Es lässt diese Streitschrift und die darin enthaltenen Vorschläge zur Aufarbeitung des Nachwendeunrechts aber auch illusionär erscheinen. Deshalb ist sie aber keineswegs überflüssig. Ganz im Gegenteil: Es ist gut, dass es sie gibt und dass sie viele Leser finden wird, im Osten und hoffentlich auch im Westen der Republik.
Petra Köpping: Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, Ch. Links Verlag, Berlin 2018, 204 Seiten, 18,00 Euro.
Schlagwörter: Nachwendeunrecht, Ostdeutschland, Petra Köpping, Rechtspopulismus, Ulrich Busch