von Erhard Crome
Erlebt hatte ich Samir Amin zum ersten Mal auf einem Vorbereitungstreffen für das erste Europäische Sozialforum, das im November 2002 in Florenz stattfand. Zum Vorbereitungstreffen im Sommer jenes Jahres in Wien waren Interessierte aus vielen Ländern Europas gekommen. Leo Gabriel und andere Aktivisten der Solidaritätsbewegung mit den Völkern des Südens hatten bei einer Gewerkschaft die Räumlichkeiten besorgt. Der Rest war offen, bis auf die Anfangszeit des Treffens an einem Sonnabend. Nach der Eröffnung gab es zunächst den unter Linken üblichen Streit, scheinbar zur Tagesordnung: wer teilnehmen darf und wer nicht, ob „reformistische“ Gewerkschafter oder Mitglieder nicht-revolutionärer Parteien reden dürfen, ob nicht zuerst ein Präsidium gewählt werden müsse, dessen Mitglieder sorgfältig auszuwählen seien, ob Beschlüsse gefasst werden sollten. Gabriel argumentierte mit der „Charta von Porto Alegre“, wonach alle teilnehmen dürfen, die ein Minimum an Zielen teilen: für Frieden und gegen Krieg, Kritik an der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung, gegen Armut und Ausbeutung, gegen die Unterdrückung von Frauen und Minderheiten. Ansonsten ist das Sozialforum ein „offener Raum“, in dem alle agieren dürfen, die diesen Grundsätzen folgen. Da aber das linke Prinzip waltete: Je kleiner die Sekte, desto fester der Glaube an die eigene historische Sendung, rissen die tumultarischen Auseinandersetzungen zunächst nicht ab.
Dann tauchte ein weißhaariger, älterer Mann auf, setzte sich vorn an den Tisch, nahm das Mikrofon und begann zu reden. Mitten im Gelärme war er angekündigt als Samir Amin, der Ökonom. Und er begann zu reden. Laut, ohne zu schreien, deutlich und in klaren Sätzen. Nach kurzer Zeit hörten fast alle aufmerksam zu. Er sprach über die Welt und den Kapitalismus, über die Notwendigkeit, diese Welt zu verändern, den drohenden Krieg der USA gegen den Irak, die Armut in den Ländern des Südens und die Verantwortung nicht nur der Linken, alternative Wege zu erschließen. „Eine andere Welt ist möglich“, war das Motto des Weltsozialforums. Es sollte auch nach Europa gebracht werden. Amin sprach auf Englisch, weil davon ausgegangen wurde, dass das die Sprache ist, die die meisten verstehen. Eine berufsmäßige Simultanübersetzung gab es nicht. Leo Gabriel hatte in dem allgemeinen Trubel abwechselnd Deutsch mit österreichischem Akzent, Englisch, Französisch und Spanisch geredet. Damit er nicht auch noch Amins Rede übersetzen muss, hielt der anschließend seine Rede noch einmal auf Französisch. (Menschen aus Frankreich, auch politische Aktivisten, reden oft nur Französisch, und viele Portugiesen oder Griechen, die Englisch nicht können, verstehen Französisch.) So hatte Amin mit seiner ruhigen, aber bestimmten Art die Versammlung gewissermaßen strukturiert, ihr Inhalt und Ziel gegeben. Die übrige Zeit der eineinhalb Tage ging es dann nur noch darum, dass es eine Initiative italienischer Aktivisten gab, das Forum in Florenz zu veranstalten, und dafür eine positive Resonanz und Initiativen in ganz Europa zu schaffen.
Samir Amin wurde am 3. September 1931 in Kairo geboren. Der Vater war Ägypter, die Mutter Französin. Er studierte von 1947 bis 1957 in Paris, machte zunächst das Diplom in Politikwissenschaft und Statistik, promovierte dann in Wirtschaftswissenschaft über die Ursachen der „Unterentwicklung“. Im weitesten Sinne war Samir Amin – neben Immanuel Wallerstein, André Gunder Frank und Giovanni Arrighi – einer der Begründer der Weltsystemtheorie, die darauf zielt, das Funktionieren des kapitalistischen Weltsystems schlüssig und zugleich kritisch zu erklären, wie die Zentren sowie die Peripherien und Semiperipherien entstanden und auf welche Weise sie miteinander verbunden sind: Der Reichtum in den Zentren und die Armut an der Peripherie bedingen sich gegenseitig. Dabei bezogen sie sich einerseits auf marxistische Arbeiten, andererseits auf die französische „Annales-Schule“ und insbesondere Fernand Braudel. Der ursprüngliche Ansatz war, zu untersuchen, wie aus dem europäischen Mittelalter heraus jenes soziale System entstand, das sich seit dem 16. Jahrhundert zu einem kapitalistischen Weltsystem entwickelte. Während die Protagonisten ursprünglich im Gleichklang arbeiteten, gab es später gegenseitige Vorwürfe etwa Franks, der die anderen als „eurozentristisch“ kritisierte.
Samir Amin sah sich immer in der marxistischen Tradition. Er hatte nach der Dissertation bis 1959 in Ägypten für eine staatliche Einrichtung zur Wirtschaftslenkung gearbeitet, 1960 bis 1963 war er Berater des Planungsministeriums in Mali, danach arbeitete er in Dakar (Senegal) am „Afrikanischen Institut für Wirtschaftsentwicklung und Planung“, das er ab 1970 leitete, 1980 jedoch verließ, um als Direktor des alternativen Third World Forums in Dakar zu arbeiten. Zugleich war er Professor in Poitiers, Dakar und Paris und wurde als einer der angesehensten Ökonomen und Intellektuellen international geachtet.
Die neoliberale Globalisierung nannte er kürzlich eine „soziale Apartheid im Weltmaßstab“, die nur in militarisierter Form aufrechterhalten werden kann. Er beschäftigte sich intensiv mit der Entwicklung Chinas und Vietnams, die er im Unterschied zu den exklavenhaft organisierten Exportwirtschaften in Afrika als autozentrierte Entwicklungsmodelle ansah. Ohne starke staatliche Eingriffe lässt sich eine Zurückdrängung des Neoliberalismus nicht erreichen. Insofern brauchen die linken oder alternativ orientierten politischen Kräfte einen starken, nicht einen schwachen Staat. Mit Blick auf die größeren historischen Zusammenhänge betonte er, dass der europäische Vorsprung in der wirtschaftlichen Entwicklung ausgeglichen ist, wenn die alten Völker der „Alten Welt“, wie China, Ägypten, der Iran und Indien, mit Westeuropa und den USA gleichgezogen haben.
Politisch war Amin in den 1950er Jahren Mitglied der Französischen Kommunistischen Partei, distanzierte sich jedoch später von den sowjetisch geprägten Sozialismus-Vorstellungen. Die Idee des Weltsozialforums sah er nach dem Forum in Kanada 2016 entwertet und von den herrschenden Kräften okkupiert. Nach dem sogenannten Arabischen Frühling und dem Sturz des früheren ägyptischen Präsidenten Mubarak versuchte er, sich auch in der inneren Entwicklung Ägyptens zu engagieren und wurde Mitbegründer einer neuen Sozialistischen Partei, die sich sowohl von den früheren kommunistischen als auch den sozialdemokratischen Parteien unterscheiden sollte. Das gelang. Doch die Partei blieb klein, verlor – wie alle ägyptischen Linken – den Wettlauf um die Wählerschaft gegen Moslembrüder und Salafisten. Am Ende entstand eine neue Diktatur, die der Mubaraks um ein Haar gleicht, nur noch nicht durch Schlamperei abgemildert ist.
Samir Amin mühte sich weiter um die internationale Verbundenheit der Altermondialisten und der Linken. Er kritisierte zugleich, dass die Linken in Europa ihre Hoffnungen auf andere projizieren, in Kuba, Venezuela, Brasilien, weil sie erwarten, dass die Linken dort das zustande bringen, was sie zu Hause nicht erreicht haben. „Sie sollten lieber zu Hause ihre Aufgaben erfüllen“, sagte er. Am 12. August 2018 ist Samir Amin in Paris gestorben.
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