21. Jahrgang | Nummer 17 | 13. August 2018

Kater Sheldon im Tucholsky-Museum

von Bettina Müller

Rheinsberg, 2018. Meine Pressestelle wird mit unzähligen Anfragen überschüttet. Überall ein Schimpfen und Flehen, ein Hadern mit dem Schicksal. Wie konnte diese skandalöse Ungeheuerlichkeit passieren, dass man mich, die Königliche Hoheit Sheldon I., eine Nacht „aus Versehen“ im Tucholsky-Museum einschließen konnte (Das Blättchen 10/2018)? Ich will Ihnen gerne erzählen, wie dieser nahezu unverzeihliche Fauxpas meines unaufmerksamen Personals passiert ist und wie sich das Schlechte, das Diabolische, doch noch zum Guten wendete, und finalement zur Absolution.
Es geschah an einem trüben Tag. Ich hatte ungezählte Touristen in meinem Park bespaßt und ebenso viele Hunde verprellt. Mir stand nun dringend der Sinn nach Ruhe, denn ich kann Ihnen sagen: Meine Arbeit ist ganz schön anstrengend. Ja, es ist wahr, ich stehe kurz vor dem Burnout. Ich schleiche mich also spätnachmittags noch ins Tucholsky-Museum, das Personal rutscht schon gramgebeugt auf den Knien herum und poliert konzentriert den Parkettboden. Daher bemerkt niemand, dass ich es mir mal wieder auf Herrn Tucholskys Arbeitsstuhl an seinem Schreibtisch gemütlich gemacht habe. Nur ein Viertelstündchen, denke ich mir, nur ein einziges Viertelstündchen ausruhen, denn ich kann nicht mehr! Und danach geh’ ich auch schon wieder. Hinaus ins Ungewisse. Zu den vielen Touristen, den Millionen von Paparazzi, die mir mittlerweile überallhin folgen, sogar auf die Katzentoilette, und vor allem zu diesen … Hunden, die mir nach einem Regentag mit ihrem modrigen Gemüffel die Parkluft verpesten. Und erst das grenzdebile Gebell. Ich bin schon fast taub davon.
Sie glauben gar nicht, wie viele unterschiedliche Nuancen diese fellenen Wichte in ihrem Repertoire aus der Hölle haben und damit den lieben langen Tag meine sensiblen Katerohren belästigen. Große Hunde haben ein dunkles, voluminöses und werkshalliges Timbre. Der Boden vibriert bei dem Radau bis nach Neuruppin und sie suhlen sich geradezu ekstatisch in dem frenetischen Beifall, den ihr stolzer Besitzer spendet und dabei fast kollabiert. Stundenlang würden sie so weitermachen, wenn ich nicht ständig einschreiten und sie mit meinen bis zum Anschlag ausgefahrenen Krallen in die Schranken weisen würde.
Dann die kleinen Hundchen auf den zarten Ärmchen ihrer Besitzerinnen, ein nettes Accessoire, aber genau so sinnlos. Es ist auch weniger ein Gebell, das aus ihnen erbricht, sondern vielmehr ein gemütsarmes Gekrächze. „Frau Hundebesitzerin, das klingt ja gar nicht gut, was hat der Kleine denn? Ein Katarr? Oh je, Katastrophe, Notfall, jetzt aber schnell ins Spital. Vielleicht auch schon mal dem Bestatter Bescheid geben? Ja, dieser Hundefriedhof in Posemuckel, der ist wirklich sehr idyllisch.“
Über diese ganze sinistere Sinniererei muss ich wohl erschöpft eingenickt sein, ist ja auch kein Wunder. Jedenfalls herrscht auf einmal Grabesstille und es ist stockduster. Nur Herrn Tucholskys Totenmaske leuchtet, als würde sie jemand anstrahlen. Ich bekomme Angst und fauche sie zunächst hilflos an, beruhige mich aber wieder, weil ich die Ausweglosigkeit meiner Situation natürlich blitzschnell erkenne. Nun gut, ich miaue als Protestbekundung noch weiter, muss aber irgendwann nach einer Stunde einsehen, dass mich niemand hört. Wo ist das Personal, wenn man es wirklich mal braucht? Es ist doch immer dasselbe. Stille. Verzweiflung. Ich bin allein auf mich gestellt. Ich rolle also unter den wachsamen Augen der Totenmaske mitsamt meinem fahrbaren Untersatz vom Schreibtisch weg und sehe, dass da noch etwas daneben steht: eine drehbare Buchablage mit vielen dicken Schmökern. Ach so, das ist also die Kurt-Tucholsky-Gesamtausgabe? Bis jetzt kenne ich nur sein Buch „Der Hund als Untergebener“. Das müssen Sie unbedingt lesen. Aber das da sind über 20 Bände. Ich kann es kaum glauben. Das hat alles der Herr Tucholsky geschrieben? Unglaublich. Der Mann muss ein Genie gewesen sein. Wann hat der das denn alles gemacht? Hatte der nicht einen Harem oder wie war das? Und so ziehe ich, soweit es meine noch etwas unbeholfenen Pfoten erlauben, behände einen Band aus dem Regal. Ich fange an zu lesen und vertiefe mich in die Welt des Herrn Tucholsky. So vergeht Stunde um Stunde, in denen ein einsamer, vergessener Kater den Tiger liest, und dann vor Begeisterung schnurrt.
Ein schrilles Kreischen beendet meine monumentalen Nachtgedanken. Ich habe über meine Lektüre die Zeit vergessen und die Museumsangestellte fast zu Tode erschreckt, die noch schlaftrunken im fahlen Morgengrauen ihren Dienst antritt. Ich kann die brave Frau zum Glück beruhigen und sie kocht uns erst einmal einen starken Kaffee, der mir Bärenkräfte verleiht. Beschwingt verlasse ich das Museum und freue mich auf meinen neuen Arbeitstag. Bald komme ich wieder. Dann schaue ich mir auch den Rest an.
Lesen Sie demnächst eine weitere Folge meiner Nachtgedanken: Wie ich einen Neufundländer auf den Arm nahm.
In dem Sinne:
Ihr Sheldon
(Offizielle Rheinsberger Persönlichkeit)