21. Jahrgang | Nummer 17 | 13. August 2018

Das Elend des Konservatismus

von Stephan Wohanka

Als Horst Seehofer kürzlich seinen „Masterplan Migration“ vorstellte, freute er sich, süffisant grinsend: „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir nicht so bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war.“ Was macht diese Episode erwähnenswert? Seehofer ist (noch) einer der führenden konservativen – und dabei noch christlichen – Politiker dieser Republik. Sein „Witz“ zeigt, dass ihm (und anderen nicht nur in seiner Partei mit Begriffen wie „Asyltourismus“ oder „Abschiebeverhinderungsindustrie“) die Grenze zwischen konsequentem Handeln und blankem Zynismus verloren gegangen ist. So steht das Ganze pars pro toto für eine geistig-moralische Haltung, die auf eine tiefe geistig-moralische Krise des Konservatismus und der ihn tragenden Parteien hierzulande und anderswo hindeutet.
„Geistig-moralisch“? War da nicht mal was? Ja, klar – Kanzler Kohls krachend gescheitertes Ansinnen, eine „geistig moralischen Wende“ Anfang der 80er Jahre zu vollziehen, steht symbolisch für die schon damals empfundene konservativ-bürgerliche Sinnkrise. Aber statt Aufbruch bräsiges Dahinregieren und nicht von ungefähr zeigten sich bereits in der zweiten Hälfte der Achtziger mit dem Erstarken rechtslastiger Protestparteien weitere Erosionserscheinungen des Konservatismus. Keine geistige Wende, sondern „die Wende“ 1989/90 verhinderte damals die Abwahl der Kohl-Regierung und gewährte ihr Aufschub bis 1998.
Wenn heute Angela Merkel für den Verlust des „konservativen Markenkerns der Union“ verantwortlich gemacht wird, so geht dieser Vorwurf am Problem vorbei. Richtig ist, dass eine konservative Kanzlerin Entscheidungen wie die für den Atomausstieg, für die Aussetzung der Wehrpflicht oder für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe nicht so lapidar, so quasi im Vorbeigehen getroffen hätte, wie sie es tat. Und dennoch hat nicht sie den Niedergang konservativer Politik ausgelöst; vielmehr ist ihr Aufstieg selbst eine Folge dieses Niedergangs. Der Konservatismus als tragende politische Strömung ist also seit langem erheblich geschwächt und so geht das sowohl von den Rechtspopulisten der AfD als auch vom aufbegehrenden Parteinachwuchs sowie den alten Granden der Union zu hörende Geschrei „Merkel muss weg“ zwangsläufig ins Leere. Ihr Weggang bewirkte gar nichts.
Wobei, so viel Redlichkeit muss sein, Merkel und die Union echten Konservatismus auf einem Feld sehr wohl gepflegt haben – dem des Sparens; mit desaströsen Folgen hierzulande und auch in Europa. Es genügt, im Internet „Folgen der Sparpolitik“ anzuklicken, um sich ein Bild davon zu machen, was dieser unsinnigen Politik geopfert wurde, welche Löcher gerissen wurden.
Die Entkernung des Konservatismus ist so weit fortgeschritten, dass sich die ihn tragenden Parteien hierzulande und anderswo häufig als unfähig erweisen, eine auch nur halbwegs glaubwürdige und vor allem nachhaltige, zukunftsfähige demokratische Politik für ihre Länder zu gestalten. Der USA-Historiker Daniel Ziblatt hat dazu ein bemerkenswertes Buch verfasst, dessen Kenntnis ich Daniel Binswanger verdanke: „Conservative Parties and the Birth of Democracy“ (Konservative Parteien und die Geburt der Demokratie). „Ich argumentiere in diesem Buch“, schreibt Ziblatt, „dass die Demokratien auf eine lange Tradition solider, gut organisierter und pragmatischer konservativer Parteien angewiesen waren, um überlebensfähig zu sein“. Eine steile These, ob stichhaltig? Das Buch ist eine Studie über die Ausformung, Konsolidierung und den phasenweisen Zusammenbruch demokratischer Staatsformen zwischen 1850 und 1950, sich hauptsächlich auf Untersuchungen zu Deutschland und England stützend. Obwohl historisch angelegt – der Autor trifft unmittelbar die politischen Aktualität; Binswangers Resümee: „Das Einzige, was eine Demokratie am Leben erhält, sind solide, vernünftige Traditionsparteien. In heutiger Zeit eine schlechte Nachricht.“ Überall dort, referiert er weiter, wo der Konservatismus mit dem rechten Populismus eine Allianz eingehe, hat letztere die Chance, die politische Macht zu erobern. Das moderne Paradebeispiel dafür sei Donald Trump, den die Republikanische Partei zwar zunächst bekämpft hatte, mit dem sie dann aber auf Gedeih und Verderb einen Pakt geschlossen habe.
Ob Gesellschaften den Weg zum demokratischen Verfassungsstaat mehr oder weniger kontinuierlich zurückgelegt haben und seine Existenz verstetigen konnten oder nicht, hänge nach Ziblatt im Wesentlichen von zwei Punkten ab. Der erste besagt, dass die konservativen Machteliten, also all diejenigen, die der politischen Ermächtigung der Massen feindlich oder mindestens skeptisch gegenüberstehen, für Erfolg oder Misserfolg der Demokratisierung viel wichtiger sind als ihre Gegenspieler, die progressiven demokratischen Kräfte. Das deutsche Beispiel ist schlagend: Obwohl das Land Anfang des 20. Jahrhunderts die stärkste, am besten organisierte sozialdemokratische Partei weltweit besaß, setzten sich Anfang der 30er Jahre völkische Extremisten durch. Der Grund dafür lag nach Ziblatt in der Verfasstheit der konservativen deutschen Eliten, in ihrer organisatorischen Schwäche und der ideologischen Rückständigkeit, was dazu führte, dass die konservativen Parteien der Versuchung erlagen, Allianzen mit dem Rechtsextremismus einzugehen, der diese Eliten selbst politisch überflüssig machte. Der zweite Punkt besagt, dass weniger die staatlichen Institutionen als viel mehr namentlich die konservativen Parteien, ihr Organisationsgrad, ihre Fähigkeit zu Allianzen und ihr ideologisches Profil das entscheidende Kriterium bilden, ob ein Land in den Autoritarismus abgleitet oder auf dem Pfad der demokratischen Entwicklung bleibt.
Was Deutschland angeht, so ist der „Trump“ der Union die AfD. Sie lockt die sich heimatlos fühlenden Konservativen mit rechten Sirenengesängen; schon damals, und jetzt erst recht, sind diese Klänge nicht wirkungslos; eingangs zitierte Begriffe zeigen das. Übrigens – schon 2011 (!) wollte sich Seehofer „bis zur letzten Patrone“ gegen eine Zuwanderung in die Sozialsysteme wehren. Diesen Unionskreisen ist offenbar „langfristig ,konservativ‘ heute nur noch in der pornografischen Überspitzung seiner völkisch-nationalistischen Dimensionen ,aufregend‘“ (Matthias Heitmann). Das dazu ins „Schema“ passende, von der CSU vom Zaun gebrochene politische Kasperletheater „Flüchtlingspolitik“ zielte wohl in erster Linie – sozusagen taktisch – auf die bayerischen Landtagswahlen im Oktober. Den Spitzen der Partei war neben entsprechender populistischer Rhetorik offenbar fast jedes Mittel recht: politische Erpressung durch „doppelte“ Rücktritte, rüde persönliche Attacken auf die Kanzlerin bis hin zur Androhung, die Regierung scheitern zu lassen. Hatte das Ganze darüber hinaus noch einen strategischen Sinn, dann den, die von Alexander Dobrindt ausgerufene „konservative Revolution“ in Szene zu setzen. Das ist kalkuliert; der Begriff „konservative Revolution” ist historisch klar zuzuordnen und gehört in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus. Dobrindt zeigt damit, dass er die letzten Hindernisse zur AfD, in der derartige Begrifflichkeiten en vogue sind, beiseite räumen will. Damit steuert er unzweideutig auf eine Politik im Stile eines Viktor Orban zu, den er übrigens für „bürgerlich im besten Sinne“ hält.
Gottseidank lässt sich Ziblatts These auch positiv belegen: In Frankreich stellte sich François Fillon, der Kandidat der konservativen Partei, im zweiten Wahlgang der dortigen Präsidentschaftswahlen klar gegen Marine Le Pen und leistete so einen entscheidenden Beitrag zu deren Niederlage und ihrer momentanen relativen politischen Bedeutungslosigkeit.
Ergo: Dort, wo auch die traditionelle konservative Rechte dem Populismus kompromisslos entgegentritt, kann dieser chancenlos bleiben. Das ist selbst für eingefleischte Liberale und überzeugte Linke eine gute Botschaft. Die Frage bleibt nur: Wo ist eine solche konservative Kraft hierzulande?