von Wilfried Schreiber
So lautet der Titel eines außerordentlich anregenden Buches, das im Frühjahr 2017 vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) im Nomos-Verlag herausgegeben wurde. Bemerkenswert an diesem Buch ist vor allem, dass es nicht den Anspruch der Verkündung letzter Wahrheiten stellt, sondern eine Fülle wichtiger Probleme aufwirft, die jeden Bürger interessieren, der sich über die Frage von „Krieg oder Frieden“ Gedanken macht. Dabei wenden sich der Herausgeber Dr. Hans-Georg Erhart und seine 16 Mitautoren zweifellos in erster Linie an ein sicherheitspolitisch orientiertes Fachpublikum.
Die Autoren sind Wissenschaftler verschiedener deutscher und zum Teil auch internationaler Forschungseinrichtungen beziehungsweise Ämter (IFSH, SWP, BBK, BICC und andere), die sich aus unterschiedlichen politischen wie auch methodologischen Positionen mit den geopolitischen Veränderungen der Welt von heute und ihren Folgen – insbesondere mit der Neuartigkeit von Konflikten – befassen. In schonungsloser Offenheit zeigen die Autoren ein realistisches Bild des Phänomens „Krieg“ im 21. Jahrhundert. Es ist nicht mehr die offene Feldschlacht mit riesigen Panzerarmeen, die dieses Bild prägt. Das Bild ist vielschichtiger, differenzierter, unberechenbarer, verschwommener und damit letztlich gefährlicher geworden.
Hervorzuheben ist zunächst die fundierte Einleitung des Herausgebers, in der er sich mit dem Wesen des Kriegs beschäftigt und die einzelnen Beiträge des Buches kurz vorstellt. Drei Teile geben dem Buch seine logische Struktur, die zugleich den Untertitel des Buches bilden: „Konzepte, Akteure, Herausforderungen“. Insgesamt geht es um neue Aspekte des Verhältnisses von Krieg und Frieden, um neue Technologien und Kampfformen, um unterschiedliche Akteure, um die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, die Verletzbarkeit der modernen Industriegesellschaften sowie damit verbundenen Konsequenzen in politischer, militärischer, wirtschaftlicher, ethischer und juristischer Hinsicht. Es geht also um ein sehr komplexes Bild der realen und potenziellen Kriege im 21. Jahrhundert.
Gleich zu Beginn seines Aufsatzes über „Postmoderne Kriegführung in der Weltrisikogesellschaft“ verweist Erhart auf eine neue Qualität im Verhältnis von Krieg und Frieden in der Gegenwart, die darin besteht, dass sich die bisher klaren Grenzen zwischen diesen Kategorien verwischen. Nicht jeder Militäreinsatz ist schon Krieg; zugleich kann aber schon das Handeln ohne Einsatz traditioneller militärischer Gewalt Krieg sein. Durch die „Innovationen der postmodernen Kriegführung“ – so schreibt Erhardt – „verschwinden und erodieren die Grenzen zwischen Krieg und Frieden“. Zu diesen Innovationen gehören nach Erhart insbesondere vier miteinander verbundenen Elemente: Als erstes Element benennt er die neuen „Möglichkeiten der informationellen Beeinflussung“ der Bürger. Das zweite Element „ist die Tendenz zur flexiblen Vernetzung und Vermischung von Instrumenten, Mitteln und Methoden. Ein drittes Element „ist die Nutzung von indirekten und/oder verdeckten Ansätzen“ der Kriegführung. „Viertes Element ist die die Vermischung von herkömmlichen und neuen Technologien“, wie zum Beispiel durch Robotik und Cyberaktivitäten, wodurch die gesamte Kriegführung auf allen Ebenen nachhaltig verändert werde.
All das führe „zu einer erweiterten Grauzone zwischen Krieg und Frieden, in der Aktivitäten stattfinden, die einzeln keine kriegerische Handlung darstellen oder schwer zuzuordnen, also nicht eindeutig als kriegerischer Akt zu identifizieren sind“. „Diese Aktivitäten in der Grauzone“, so schreibt Erhart, „sollen einerseits den Krieg begrenzen, andererseits tragen sie aber auch zur Entgrenzung bei, weil sie bestehende Grenzen (Krieg/Frieden, Front/Hinterland, staatlich/nicht-staatlich, zivil/militärisch, Freund/Feind, innere/äußere Sicherheit, regulär/irregulär, etc.) durch die Anwendung irregulärer Vorgehensweisen verwischen oder beseitigen. Sie könnten aber auch als kriegerischer Akt wahrgenommen werden. Die heikle, von der jeweilige politischen Zweckbestimmung abhängige Frage ist nur, ab welchem Grad der Feindschaft und der Gewaltanwendung die rote Linie als überschritten gilt.“ Nach Meinung des Rezensenten markieren die hier zusammengefassten Zitate zugleich den Kern, um den sich nahezu alle weiteren Fragestellungen in diesem Buch bewegen.
Zweifellos dürfte das Problem von Krieg und/oder Frieden auch den meisten Zündstoff für Diskussionen enthalten, handelt es sich doch hier ausschließlich um Reflektionen von Wissenschaftlern des transatlantischen Westens, der an dieser Stelle als „globaler Norden“ bezeichnet wird. Der Anspruch, als Repräsentanten eines gesellschaftlichen Systems zu sprechen, dass sich – bei aller Problemorientiertheit der Texte – als höchste Stufe der menschlichen Zivilisation begreift, ist unübersehbar.
Nichtsdestotrotz sind die genannten Verwischungen der Übergänge zwischen Krieg und Frieden eine Realität und werden insbesondere bei den sogenannten hybriden Kampfformen deutlich, mit denen sich mehrere Autoren befassen (Wassermann, Koch, Schmid, Freudenberg). Dabei zeigt sich eine weitgehende Übereinstimmung der Autoren darüber, dass es in der vorliegenden Literatur keine einheitliche Definition für den „hybriden Krieg“ gibt und der Ausdruck selbst für eine „begriffliche und politische Orientierungslosigkeit“ steht. Tendenziell dominiert aber auch ein ahistorisches Herangehen an das Phänomen der hybriden Kampformen. Der „hybride Krieg“ wird quasi als eine Erfindung der Russen in der Auseinandersetzung mit der Ukraine im Jahre 2014 dargestellt. Leider verzichten alle Autoren auf entsprechende Erfahrungen aus dem 1. und 2. Weltkrieg sowie den Kolonial- und Befreiungskriegen der Vergangenheit. Vor allem werden die adäquaten Aktivitäten der USA in Korea, Vietnam, Afghanistan, Irak, Syrien und im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus ignoriert.
Immerhin kommt Johann Schmid zu der Einschätzung, dass „jeder Krieg hybride Dimensionen und Elemente“ aufweist. Hervorzuheben ist sein Versuch, das Wesen des hybriden Krieges zu definieren, das er insbesondere in der „Ausrichtung der Kriegs-/Konfliktentscheidung primär auf ein nicht-militärisches Gravitationszentrum“ sieht. Weiterhin gehöre zu den Merkmalen des hybriden Krieges „das gezielte Operieren im Grauzonenbereich unterschiedlicher Schnittstellen gegen spezifische Verwundbarkeiten der Gegenseite“ sowie „die kreative Kombination und Parallelität in der Anwendung unterschiedlicher ziviler wie militärischer Kategorien, Formen, Mitteln und Methoden der Kriegführung und des Kämpfens“. Für Schmid sind hybride Kampfformen sowohl realer Krieg als zugleich auch strategisches Konzept – was er mit viel Details unterlegt.
Einen anderen Blickwinkel auf den hybriden Krieg hat Dirk Freudenberg, der das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) vertritt. Er beginnt mit der Darstellung der Verletzlichkeit hoch technisierter und vernetzter, komplexer Gesellschaften. Als „Kritische Infrastrukturen (KRITIS)“ definiert er „insbesondere die Energieversorgung, Informationstechnologien und die Telekommunikation, das Notfall- und Rettungswesen, das Gesundheitswesen, Transport und Verkehr, die Ver- und Entsorgung, das Banken- und Versicherungswesen sowie Regierung und öffentliche Verwaltung“. Diese kritischen Infrastrukturen sind für ihn „eine der Säulen und gleichzeitig die Achillesferse moderner Gesellschaften“. Damit bringt er de facto die Kriegsuntauglichkeit dieser Gesellschaften für einen Krieg auf ihrem eigenen Territorium zum Ausdruck. Seine Schlussfolgerung aus der existenzbedrohenden Verletzlichkeit der westlichen Industriegesellschaften insgesamt ist aber nicht die grundsätzliche Kriegsverhinderung sondern die „Stärkung der Resilienz“, also die Widerstandsfähigkeit gegen destruktive Einwirkungen, wie sie im „Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“von 2016 dargestellt wird. Demnach seien unter den Bedingungen einer vorrangig hybriden Kriegführung „Zivilschutz und zivile Verteidigung neu zu bewerten und anzupassen“.
Zweifellos verbinden sich damit zahlreiche Fragen, die insbesondere im nichtmilitärischen Bereich der Gesellschaft einer gründlichen Erörterung bedürfen. Das Gleiche gilt übrigens für die Probleme des Buches insgesamt. Es sind vor allem Fragen, die an die Politik und die Zivilgesellschaft gestellt werden, wie sie mit den Problemen umgehen wollen, die sich aus den Veränderungen des Kriegsbilds und den neuen Bedrohungen ergeben. Zahlreiche Hinweise hierfür finden sich auch in den Beiträgen von Roland Kaestner zu den Möglichkeiten der militärischen Nutzung des Cyberraums und von Marcel Dickow zur schleichenden Automatisierung des Krieges und zur Autonomisierung von Kriegsmaschinen. Nicht zu vergessen auch der Beitrag von Martin Koch über das komplizierte Feld des Umgangs mit Terrorismus. Michael Brzoska verweist auf die mit all diesen Entwicklungen verbundene Erosion der bestehenden normativen Ordnung zur Kriegführung und die neuen Anforderungen an das Völkerrecht. Leider ist es hier nicht möglich, durchgängig auf die interessanten Beiträge einzugehen. Tatsächlich werden alle heißen Eisen der Kriegsproblematik aus politologischer Sicht angefasst. Wer sich in Deutschland ernsthaft mit der Frage von Krieg und Frieden befasst, kommt um dieses Buch nicht herum.
Hans-Georg Ehrhart (Hg.): Krieg im 21. Jahrhundert. Konzepte, Akteure, Herausforderungen, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017, 377 Seiten, 74,00 Euro.
Schlagwörter: Cyberraum, Friedensforschung, hybrider Krieg, Krieg, Krieg und Frieden, postmoderne Kriegführung, Terrorismus, Völkerrecht, Wilfried Schreiber