20. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2017

Langfristige Wirkungen

von Bernhard Mankwald

100 Jahre Oktoberrevolution – zur Blättchen-Sonderausgabe 3/2017 wäre mehr zu sagen, als in einen einzigen Beitrag passt. Hier geht es daher zunächst einmal nur um die Überlegungen von Michael Brie; und dabei auch nur um dessen Einschätzung, dass Karl Marx „keine wirksame Warnung vor kommunistischer Allmacht hinterlassen“ habe. Nach reiflicher Überlegung muss man dieser Aussage sogar zustimmen – aber ist Marx dafür zu tadeln, dass die Bolschewiki sich vor der Allmacht gar nicht warnen lassen wollten, sondern diese mit allen Mitteln anstrebten?
Einmal an der Macht, bezeichnete sich Lenins Partei als „kommunistisch“ und berief sich auf das „Manifest der Kommunistischen Partei“ aus dem Jahre 1848. Dem Geist dieses Dokuments, das Marx nach Vorarbeiten von Friedrich Engels formuliert hatte, wurde sie dabei aber wohl kaum gerecht.
Bei Marx lesen wir: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen.“ Lenin dagegen hielt sich für den einzigen kompetenten Interpreten und Vertreter dieser Interessen und verfolgte Andersdenkende als Verräter. Er hinterließ eine Führungsschicht, die durchaus ausgeprägte eigene Interessen entwickelte und verwirklichte. Für Marx war „die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse“ gleichbedeutend mit der „Erkämpfung der Demokratie“. Lenin jedoch hielt nichts von „spielerischem Demokratismus“. Er ließ seine Gegner aus dem Rätekongress hinausmobben und die Verfassunggebende Versammlung vertreiben. Die Kommunisten, wie Marx sie sich vorstellte, „stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.“ Lenins Bolschewiki hingegen verdankten ihre gesamte Existenz dem „besonderen Prinzip“ einer Partei von „Berufsrevolutionären“; im Blättchen 14/2013 habe ich dies ausführlicher beschrieben.
Marx und Engels vertraten einen materialistischen Ansatz, wonach im Proletariat auf Grund seiner elenden Lage das „Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution“ entsteht. Ihre eigene Rolle beschrieben sie als die von „Bourgeoisideologen“, die sich dem Proletariat anschließen. Lenin dagegen sah sich und seine Mitarbeiter aus den „gebildeten Klassen“ als Führer und Erzieher, die den Arbeitern von außen ein Bewusstsein bringen, das diese von sich aus gar nicht haben können.
Marx beschreibt die „Organisation der Proletarier zur Klasse und damit zur politischen Partei“, die „jeden Augenblick wieder […] durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst“ gesprengt wird und daher immer wieder neu aufgebaut werden muss; „Organisation“ ist also für ihn kein Zustand, sondern ein Prozess. Auf Lenins Konzept dagegen passt Marxens Beschreibung der „Utopisten“: „An die Stelle der gesellschaftlichen Tätigkeit muß ihre persönlich erfinderische Tätigkeit treten, […] an die Stelle der allmählich vor sich gehenden Organisation des Proletariats zur Klasse eine eigens ausgeheckte Organisation der Gesellschaft.“ Mit dem Unterschied, dass Lenins intellektuelle Mitstreiter zuvor noch dem Proletariat die „eigens ausgeheckte“ Merkwürdigkeit einer Arbeiterpartei vorsetzten, in der einfache Arbeiter als Mitglieder gar nicht zugelassen waren.
Marx verstand unter „Sozialismus“ keine Gesellschaftsordnung, sondern eine Anzahl recht unterschiedlicher politischer Bewegungen, die er säuberlich nach ihrem sozialen Hintergrund und ihrer politischen Tendenz unterschied. Ein bürokratischer Sozialismus, wie ihn Lenin im Jahr 1920 als Herrschaft des „Politbüros“ und eines damals noch existierenden „Orgbüros“ beschrieb, kommt bei ihm nicht vor. Dabei verschwieg Lenin in seiner Beschreibung der politischen Praxis noch die eigene Rolle als Regierungschef, die er durchaus in der Art eines Diktators ausübte. Eine solche Rolle als „permanenter Diktator“ anzustreben, hatten Marx und Engels aber ihrem Gegner Bakunin vorgeworfen. In dieser Polemik setzten die beiden Autoren den Begriff „Orthodoxie“ mit blindem Gehorsam gleich; Lenin fand nichts dabei, den eigenen Standpunkt als „orthodox“ zu bezeichnen.
Zur Orthodoxie gehört das Dogma; Lenin führte die Auseinandersetzung mit politischen Gegnern denn auch wie ein Staatsanwalt, der zufrieden ist, wenn er den Angeklagten Delikte wie Opportunismus, Revisionismus oder Renegatentum vorwerfen kann. Auch darüber habe ich mich auf diesen Seiten schon einmal ausführlicher geäußert. (Blättchen 15/2013)
Die Abkehr von demokratischen Grundsätzen – und Entwicklungschancen – begann also nicht erst mit dem von Michael Brie beschriebenen „Gelächter aus dem Smolny“. Warnungen davor gab es durchaus, und in der politischen Auseinandersetzung wurden sie lebhaft diskutiert. Ihre Wirkung aber können sie auch heute noch entfalten – wenn sie dazu anregen, Marx im Kontext seiner Zeit zu verstehen und nicht im Lichte späterer dogmatischer Interpretationen.